Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
er und ich lehne mich zurück und überlasse mich einem Gefühl, dass ich nicht beschreiben kann. »Ich werde mich um alles kümmern«, sagt er und ich wünschte, er hätte es nicht gesagt. Es klingt zu sehr nach Jonathon, dass ich unwillkürlich zurückzucke, als Benicio sich zu mir herunterbeugt und mich sanft auf die Wange küsst.
Er redet noch etwas von einem Plan, wenn er zurückkommt, und dann ist er verschwunden.
18
Erschöpfung umschließt meine Knochen wie ein enger Gips und macht es mir immer schwerer, mich zu bewegen. Alles, was ich in den vergangenen paar Tagen durchlitten habe, scheint sich in meinem Inneren angesammelt zu haben. Ich weiß nicht mehr, wie viel Codein ich eingenommen habe. Ich döse vor mich hin, lasse aber nie ganz den kleinen Hügel in der Nähe der Bäume aus den Augen. Jedes Mal wenn Laub raschelt und ein Zweig knackt, bin ich sicher, dass irgendjemand oder irgendetwas den Mann, den ich getötet habe, wieder aufweckt.
Den Mann, den ich getötet habe. Die Vorstellung allein ist so undenkbar, dass ich mir mehr als einmal die Frage stelle, ob Roberto nicht vielleicht doch noch am Leben ist. Ob vielleicht die Laute, die ich aus dem Dschungel höre, von Roberto stammen, der nach Luft schnappt. Ich zwinge mich dazu, meine Arme und meinen Hals zu strecken, aber es bringt nicht viel. Ich trinke etwas Wasser und denke in meinem benebelten Zustand, wie viele Jahre meines Lebens schon verstrichen sind und an wie wenig davon ich mich erinnern kann. Was habe ich in all den Stunden getan? Ich weiß es nicht.
Dass ich nach Mexiko gekommen bin, hat alles verändert. Sollte ich überleben, werde ich mich an jede einzelne Sekunde erinnern können, die verstrichen ist, seit ich aus dem Flugzeug gestiegen bin. Ganz ähnlich wie an meine Zeit mit Seth. In all den Jahren habe ich nicht mehr an unsere gemeinsame Zeit gedacht. Ich kann immer noch Erinnerungen hervorholen, die so klar und leicht zu erreichen sind, als würde ich einen glänzenden Apfel aus einer Obstschale nehmen. Ich erinnere mich an den Geruch seines Spülmittels (Zitrone), die Farbe seiner Badematte (Aquamarin) und an Dutzende von Gesprächen, die wir über das Leben geführt haben, über Bücher –
ich würde niemals, könnte gar nicht, ein Fan von Vonnegut werden
, hatte ich ihm gesagt, was so sehr nach Dr. Seuss geklungen hatte, dass er erwiderte:
Würdest du, könntest du in einem Zug?
Ich erinnere mich an das Timbre seiner Stimme, die sanfte Melodie seines Akzents, besonders wenn seine Lippen nah an meinem Ohr waren. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn das erste Mal habe sagen hören:
Der Kerl ist sternhagelvoll,
als er aus seinem Küchenfenster auf einen Mann hinabsah, der auf dem Bürgersteig versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden, irgendwo zwischen einem Straßenschild und dem Fahrradständer.
Ich erinnere mich an ein bestimmtes Shirt (kaffeefarben, mit kurzen Ärmeln und weißen Knöpfen), das Seth mal an einem Tag im Buchladen getragen hat, als er einer Gruppe von zwölfjährigen Jungs sagte, sie sollten mit dem Herumalbern aufhören, und ich kann mich noch daran erinnern, dass es regnete, ein für Portland typischer Nebel hatte das Tageslicht bereits um vier Uhr nachmittags verdrängt, als Seth neben demTaschenbuchregal sein schiefes Grinsen aufsetzte, sich umdrehte und ein weiteres Holzscheit ins Feuer legte.
Ich liebe dich,
flüsterte er mir atemlos ins Ohr.
Noch jetzt bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.
Die Frau, die das alte Haus übernommen hatte, in dem sich einst Reilly’s Buchladen befunden hatte und in dem jetzt auf der einen Seite Hochzeitstorten gebacken und auf der anderen Seite Hochzeitskleider verkauft werden, erzählte mir, dass Seth eine Frau namens Julia in Minneapolis geheiratet und mit ihr zwei Töchter bekommen und einen neuen Buchladen eröffnet habe. Reilly’s II. Ich erinnere mich noch genau an den Augenblick, in dem ich es erfuhr, an den frischen, sonnigen Morgen, den trockenen Bürgersteig, das kalte Gefühl in meiner Brust, als ich davonging.
Im Gegensatz dazu waren meine Jahre mit Jonathon wie ein langer vorhersehbarer Tag gewesen, der mit dem Frühstück begann (Müsli und Joghurt und anderthalb Becher Kaffee), gefolgt von Arbeit (meiner –
sinnlich, heiß, feucht
; seiner – nun ja, wer wusste das schon so genau?), gefolgt vom Abendessen (Nudeln oder Hühnchen, hin und wieder mal ein Burger), gefolgt vom Wochenende, an dem der Rasen gemäht werden musste
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