Gefährliche Nebenwirkung (German Edition)
sich, krabbelt über den Boden.
Dann der laute Knall eines Schusses. Noch einer. Ich blicke in die Richtung, aus der er gekommen zu sein scheint. Die Hunde bellen ununterbrochen wie verrückt.
Über mir rascheln Zweige. Kleine langbeinige Affen springen von Baum zu Baum, krächzen und zwitschern voller Panik.
Als ich mich umdrehe, erwarte ich Benicio hinter mir zu sehen, seine bernsteinfarbenen Augen und die gebrochene Nase. Ich spüre schon die Berührung seiner Hand auf meiner Schulter, rieche den leichten Wind, der mir den Duft seiner feuchten Haut zuträgt. Aber da ist niemand. Benicio ist nicht näher gekommen. Er liegt mit dem Gesicht nach unten im Gras. Seine Arme und Beine sind ausgestreckt, als würde er die Erde umarmen. Egal, wie lange ich ihn anstarre, er liegt einfach da, leblos wie ein Toter.
16
Zuerst mein Vater. Dann meine Mutter. »Sie ist von uns gegangen«, sagte die Schwester zu mir. Aber ich wusste es schon. Die welke Hand meiner Mutter unter meiner war kühl und leicht wie ein totes Vogelkind. Wir waren allein im Krankenzimmer, als ich flüsterte: »Es ist alles gut, Mom. Du kannst jetzt gehen.« Ich habe es nicht so gemeint. Nichts war gut daran, dass meine Mutter mich verließ, und ich hätte es am liebsten zurückgenommen. Der zarte Laut ihres letzten Atemzugs war eindeutig. Als ihre Seele ging, nahm sie auch den letzten Funken Energie mit, den ich noch hätte spüren können.
Irgendetwas Düsteres und Jämmerliches erfasste mich. Blass schlich ich an der Schwester vorbei. Draußen stand die Sonne am makellos blauen Himmel. Männer und Frauen bevölkerten Läden und Cafés. Kinder weinten, dann lachten sie wieder. Irgendwie schaffte es das Leben weiterzugehen. Aber durch die wechselnde Linse der Trauer sah nichts mehr so aus wie zuvor.
Noch wochenlang ging ich am Krankenhaus vorbei und erwartete irgendwie, dass die automatischen Türen aufgleiten würden und meine Mutter lachend herauskäme, um mir zuerzählen, dass alles nur ein dummes Versehen gewesen sei. Ein Fehler, ein Patzer, eine Verkettung unglücklicher Umstände. Oh Cee-Cee, du wirst es nicht glauben! Aus Wochen wurden Monate. Ich heiratete und fühlte mich doch die ganze Zeit wie hinter einem Schleier, ließ nur die kleinsten Dinge an mich heran. Ich wartete darauf, dass die Trauer verschwand. Dass irgend etwas ihren Platz einnahm.
* * *
Ich fummle an dem Sicherheitshebel der Waffe herum. Im Unterholz bewegt sich etwas. Ein deutscher Schäferhund, der an seiner Leine zerrt, ein Mann in einem grauen T-Shirt und Kakishorts – die Leine in der einen Hand, eine Waffe in der anderen.
Mein Blick fliegt zwischen dem Mann und Benicio, der am Boden liegt, hin und her. Irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Benicio es nicht zulassen wird, dass er stirbt. Ich glaube, dass er das unter Kontrolle hat. Es ist idiotisch. Es ist blöd und kindisch und verrückt, und doch beruhigt der Gedanke, dass Benicio mich unter keinen Umständen verlassen wird, mein wild schlagendes Herz und auch das Chaos in meinem Kopf.
Ich glaube nicht, dass der Mann von seinem Standpunkt aus Benicio im Gras liegen sehen kann. Ich denke, er weiß auch nicht, dass ich hinter dem Baum bin. Aber der Hund weiß es. Er riecht die Spur und zieht in Richtung Benicio. In wenigen Sekunden wird er uns beide haben.
Ich fasse die Waffe in meiner Hand fester. Die Situation ist eindeutig. Eine moralische Zwickmühle gibt es nicht. SeinLeben oder meins. Trotzdem löst die Tatsache, dass ich gleich einen anderen Menschen töten werde, den Würgereflex in meiner Kehle aus. Ich senke die Waffe. Alle möglichen Bilder rasen mir durch den Kopf. Der winzige Oliver, der auf die Straße läuft. Benicios Gesicht im Gras. Jonathons Lächeln, dieses
Lächeln
und dann seine Stimme wie ein ständiges Flöten in meinem Ohr, in meinem Kopf, durchdringend, und es wird mich niemals verlassen.
Bitte sag mir genau, was es ist, und ich werde versuchen, dass es besser wird.
Ich hebe die Pistole bis auf die Höhe meiner Wange und spanne den Hahn.
Der Hund zerrt an der Leine. Der Mann hält ihn zurück und hockt sich in eine Ecke der Lichtung. Er ruft Benicios Namen. Er ruft auf Spanisch, während ich den Atem anhalte und den Mann anvisiere.
Noch einmal werfe ich einen Blick zu Benicio. Seine Waffe liegt gerade außerhalb der Reichweite seiner Hand. Ich will, dass er mich spürt, mir ein Zeichen gibt, damit ich weiß, dass er mich nicht verlassen hat. Noch nicht. Nicht hier. Nicht heute.
Der
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