Gefaehrliche Sehnsucht
Dusche und neue Sachen zum Anziehen.
Shane hatte natürlich bleiben wollen. Claire hatte ihre ganze Überzeugungskraft gebraucht, damit er nicht um sich schlug, als Amelie ihm befahl zu gehen. Alles wird gut, hatte sie zu ihm gesagt, mit einer Zuversicht, die sie selbst nicht so richtig empfand. Amelie lässt nicht zu, dass mir etwas passiert.
Wenn sie Amelie jetzt so anschaute, wie diese kalt und ungerührt am Ende des Tisches saß, hatte Claire das Gefühl, dass sie sich da wahrscheinlich etwas verschätzt hatte. Vielleicht sogar ziemlich.
»Nach Aussage von Zeugen, sowohl Menschen als auch Vampiren, die die Szene beobachtet haben, habt ihr beiden den Tod von zweien meiner Leute verschuldet«, sagte Amelie in das Schweigen hinein. Der Junge neben Claire rutschte schweigend auf seinem Stuhl hin und her, seine Ketten rasselten. An seinem Handgelenk trug er ein Lederarmband, das besagte, dass er zu irgendeinem der Morganviller Vampire gehörte. Claire fragte sich, warum dieser Vampir nicht hier war. Er sollte bei jeder gerichtlichen Angelegenheit dabei sein, in die einer seiner Schützlinge verwickelt war.
»Wir fangen mit Ihnen an Mr...« Oliver schaute auf die Akte vor sich. »Kyle Nemeck? Laut Zeugenaussage von Menschen und Vampiren ist der Ärger losgegangen, als Sie zusammen mit anderen Mitgliedern Ihrer Studentenverbindung in das Lagerhaus kamen. Die Vampire berichten, Sie hätten einen Vampir, Ioan ap Emwnt, auf der Straße angegriffen, ihn brutal verprügelt, ausgeraubt und sterbend zurückgelassen. Ihr Glück, dass er nicht gestorben ist.« Oliver schloss die Akte und öffnete eine andere. »Dieser Vampir hatte leider nicht so viel Glück.« Er zog ein Farbfoto heraus und schob es über den Tisch. Claire musste wegschauen. Es war die enthauptete Leiche, die sie im Club gesehen hatte. »Hier ist das fehlende Stück.« Noch ein Foto, wahrscheinlich der Kopf. Claire würde auf gar keinen Fall hinsehen. »Während Ihre Freunde diesen Unglücklichen festgehalten haben, haben Sie ihm den Kopf abgeschlagen. Irgendwelche Kommentare?«
Der Junge - Kyle - schwitzte. Er sah jetzt jünger aus und sehr verängstigt. »Ich ... Sir... Ma’am - es war Notwehr. Sie haben uns angegriffen.«
»Weil sie dachten, Sie hätten einen von uns ermordet«, sagte Amelie. »Laut Gesetz kann jeder Vampir einen solchen Angreifer verfolgen und verlangen, dass er vor Gericht gestellt wird. Was Sie getan haben - ob Notwehr oder nicht -, hat diese Gruppe, die Sie legal verfolgte, in einen Blutrausch versetzt. Alles, was dann passiert ist, einschließlich aller zu Tode gekommenen Menschen, kann Ihnen direkt zur Last gelegt werden. Habe ich recht, Bürgermeister Morrell?«
Richard las mit gerunzelter Stirn in seiner Akte. Jetzt hob er den Blick und sah Kyle direkt an. Seine braunen Augen waren ohne die geringste Spur von Mitgefühl. »Richtig«, sagte er. »Wenn es nur die menschlichen Todesfälle wären, würde ich auf lebenslänglich plädieren. Da auch Vampire zu Tode gekommen sind, liegt es nicht mehr in meiner Hand. Du bist hier aufgewachsen, Kyle. Du hättest es wissen müssen.«
Kyle sah so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Oliver nahm die Fotos an sich und schlug die Mappe wieder zu. »Wollen Sie etwas zu Ihrer Verteidigung vorbringen?«, fragte er. Er klang nicht so, als würde ihn das wirklich interessieren.
Kyle machte den Mund auf, klappte ihn zu und öffnete ihn dann wieder. »Ich ... hören Sie, wir wussten nicht, dass dieser erste Typ ein Vampir war. Ich meine, wir hätten doch nie... ich schwöre.«
»Sie sagen also zu Ihrer Verteidigung, dass Sie dasselbe auch mit einem Menschen gemacht hätten. Das hätte ihn mit einiger Sicherheit umgebracht.«
»Ich...« Kyle wusste offensichtlich nicht, was er dazu sagen sollte. »Ich will damit nur sagen, dass wir nicht wussten, dass er einer von Ihnen war.«
»Schwach«, sagte Oliver. »Und der Vampir, den Sie tatsächlich umbringen konnten - behaupten Sie da auch, dass Sie nicht wussten, was er war? Ich glaube nämlich, dass Sie ihn sehr wohl erkannt haben, weil sein Name auf dem Armband steht, das Sie an Ihrem Handgelenk tragen.«
Claire atmete ganz langsam ein. Kyle hatte seinen eigenen Schutzherrn umgebracht. Sie wusste nicht, ob es dafür ein Gesetz gab, aber wenn ja, dann wäre die Strafe auf jeden Fall furchtbar.
Kyle verstummte. Er war so blass, dass er auch ein Vampir hätte sein können.
»Nun?«, fuhr Oliver ihn an. »Ja oder Nein: Haben Sie Ihren
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