Gefaehrliche Spur
alle im Chor. „Willkommen, Gott!“
Danach erhoben sie sich und bildeten einen Kreis. Offenbar begann jetzt ein Ritual oder Gottesdienst oder was auch immer; in jedem Fall etwas, das Rya nicht mitmachen wollte, weil sie es mangels Kenntnissen nicht konnte. Am besten versteckte sie sich auf der Toilette, bis alles vorbei war. Aber dafür war es zu spät. Der Mann, der sich rechts neben sie gestellt hatte, nahm ihre Hand. Rya konnte gerade noch verhindern, dass sie sich losriss. Tom, der links neben ihr stand, fasste ihre andere. Er lächelte ihr zu. Verdammt, sie musste mitmachen und das Beste hoffen.
Der Kreis setzte sich in Bewegung. Alle schritten im Uhrzeigersinn um die beiden Throne und begrüßten Göttin Rigani und Gott Cernunnos in ihrem Kreis, indem sie ihre Namen sangen. Die Melodie war so einfach, dass Rya sie schnell mitsingen konnte. Wenigstens lenkte der Gesang sie davon ab, dass sie sich zwischen zwei Männern befand, von denen jeder eine ihrer Hände hielt. Dass Tom einer der beiden war, beruhigte sie, weil er ihr schon ein bisschen vertraut war. Nicht nur ein bisschen, wie sie zugeben musste. Er hatte etwas an sich, das sie dazu drängte, ihm zu vertrauen. Aber darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie konzentrierte sich auf den Duft und das leise Knistern des Feuers. Beides beruhigte sie genug, dass sie die Nähe zu Tom, dem anderen Mann und dem Rest der Partygesellschaft aushalten konnte.
Nach der dritten Umrundung erhoben sich die beiden Auserwählten. Der Kreis öffnete sich und machte ihnen Platz. Sie gingen Hand in Hand zu dem mit Bändern geschmückten Baum. Der Kreis teilte sich in Paare auf und folgte ihnen.
Erst jetzt wurde sich Rya bewusst, dass der Kreis so gebildet worden war, dass eine Frau immer neben einem Mann stand. Und es schien ein allen bis auf ihr bekannter Konsens zu sein, dass eine Frau immer mit dem Mann zu ihrer Linken ein Paar bildete. Zu ihrem Glück war das Tom, der sie lächelnd an der Hand zum Baum führte. Seine Hand fühlte sich warm und stark an. Vertrauenerweckend. Im Kreis seiner gleichgesinnten Glaubensgeschwister hatte er die Distanziertheit abgelegt, die sie bisher von ihm kannte. Dadurch lernte sie eine neue Seite an ihm kennen, die ihr warmherzig und freundlich vorkam. Es war ein elendes Unrecht, dass er gezwungen war, auf der Straße zu leben.
Rya blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Wicca begannen, paarweise um den Maibaum zu tanzen. Tom fasste sie an den Händen und hüpfte mit ihr wie die anderen um den Baum herum. Das wirkte so kindlich-lächerlich, dass Rya lachen musste. Er stimmte ein. Seine Fuchsaugen funkelten. Die anderen nahmen an dem Lachen keinen Anstoß, sondern lachten im Gegenteil ebenfalls, jauchzten wie die Kinder und hatten Spaß. Nun, warum nicht? Für eine Weile die Vergangenheit vergessen und die Gegenwart dazu und erst recht die Zukunft und nur den Augenblick genießen, als gäbe es keine Sorgen und keinen gefährlichen Auftrag, der sie hergeführt hatte, war nicht das Schlechteste. Im Gegenteil.
Leider dauerte der Paartanz nicht lange genug dafür, sondern nur drei Runden. Danach nahm jeder eins der an den Baum geknüpften Bänder, worauf ein neuer Tanz folgte, bei dem alle durcheinander um den Baum liefen, über die Bänder sprangen, unter ihnen hindurch schlüpften und sie auf diese Weise miteinander verflochten. Dabei riefen sie einander oder an Himmel oder Erde gerichtet Wünsche zu, von denen erstaunlicherweise nur wenige mit beruflichem Erfolg und kein einziger mit Geld oder Reichtum zu tun hatten. Dafür kamen Liebe und Gesundheit sehr häufig vor und eine Menge Wünsche für Mutter Erde und Frieden für die Menschheit.
Tom wünschte sich Gutes für die Erde und ihre Kinder und gutes Gelingen für sein Leben. Rya wünschte sich Vergessen, aber das sprach sie nicht aus. Stattdessen beschränkte sie sich auf die Liebe, weil das am wenigsten auffiel in dieser Gesellschaft, deren Fröhlichkeit immer mehr zunahm. Dadurch, dass die Bänder durch das Verflechten immer kürzer wurden, rückten die Tanzenden einander zwangsläufig näher.
Es dauerte nicht lange, bis Rya das Gefühl bekam, in ungewollten Berührungen eingekesselt und erdrückt zu werden. Sie bekam keine Luft und fühlte die nur allzu vertraute Panik aufsteigen. Sie ließ ihr Band los und stolperte zurück. Stürzte. Und fühlte sich gehalten von zwei starken Händen, die Tom gehörten. Blickte in seine bernsteinfarbenen Fuchsaugen.
„Ganz
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