Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefährliche Stille

Gefährliche Stille

Titel: Gefährliche Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
den
Nordrand der Lavafelder zugefahren. Vor uns lag eine Ansammlung halb
verfallener, ausgebrannter, von Vegetation überwucherter Gebäude. Vor einem
stand eine uralte, rostige Zapfsäule. Die Überdachung war heruntergebrochen. An
der Fassade des Tankstellengebäudes hing ein schiefes, verwittertes Schild. Auf
der anderen Seite des Weges ragte ein vulkanischer Felsdom empor. Aus dem
Gestrüpp an seinem Fuß guckte rostiges Metall hervor — eine alte Müllkippe.
    Ich sagte: »Sehen wir uns mal um.«
    Die Benzinmarke hieß Calco; das fand
ich heraus, indem ich die erhabenen Lettern auf der Zapfsäule abtastete. Ich
sagte das Wort laut und sah Hy fragend an.
    »Von vor dem Zweiten Weltkrieg«,
erklärte er. »Die Gesellschaft sattelte auf Flugbenzin für die Luftwaffe um,
wurde dann in den fünfziger Jahren von Getty aufgekauft.«
    »Woher weißt du so was?«
    Er zuckte die Achseln. »Weiß ich
einfach.«
    »Also hat hier seit den vierziger
Jahren niemand mehr getankt?«
    »Oder noch früher.«
    Ich drehte mich einmal um mich selbst,
musterte den Rest des Ortes. Ein rußgeschwärztes Fundament, das aussah, als
hätte es einmal zu einem Wohnhaus gehört, und daneben ein windschiefes
kleineres Häuschen ohne Dach und Fenster. Von einem weiteren Haus, das ein
Stück weiter hinter einer Gruppe von Nadelbäumen stand, kam ein unablässiges
Knallen: eine Tür, die im Wind schlug.
    Hy inspizierte das Schild an der
Fassade des Tankstellengebäudes. »Muss ein Allroundladen gewesen sein«, rief er
herüber. »Das Einzige, was ich lesen kann, ist das Wort ›Köder‹. Er ist völlig
ausgeweidet, und die Wände sind voller Graffiti. Hey, hier ist ein neuerer: ›Brandon
hatte einen Superfick mit 01ga.‹«
    »Entweder er wollte angeben oder sie
Reklame machen. Wie dieser Ort wohl hieß?«
    Er ging zum Pick-up, nahm eine Karte
aus der Seitentasche und breitete sie auf der Haube aus. »In dieser Gegend ist
nichts verzeichnet, aber wieso sollte es auch auf einer neueren Karte drauf
sein? Außer Kids mit Sprühdosen war hier doch seit Jahrzehnten niemand mehr.«
    »Vielleicht kann’s uns ja jemand in
Sage Rock sagen. Lass uns das Haus da hinter den Bäumen noch angucken, ehe wir
wieder zurückfahren.«
     
    Das Haus war nicht ganz so verfallen
wie die anderen, aber die Wände waren ebenfalls besprüht. Ein Stück des
Wellblechdachs fehlte, die Fenster waren eingeschlagen, und ein Schornsteinrohr
lag neben dem Haus auf dem Boden und rostete vor sich hin. Hy und ich traten
ins Halbdunkel, und sofort überkam mich dasselbe Gefühl wie vorhin auf den
Lavafeldern. Ich sah Hy an, und er nickte bestätigend.
    Es gab nur drei kleine Räume:
Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer; draußen unter den Bäumen befand sich ein
halb verfallenes Klohäuschen. Ein paar Einrichtungsgegenstände waren noch da:
kaputtes Zeug, das niemand für stehlenswert gehalten hatte. Das beste Stück war
ein altes Grammophon.
    Hy ging hin und inspizierte es. »RCA.
Wir hatten zu Hause auch so eins.« Er berührte die Platte auf dem Teller,
drehte sie. »Die Titelmusik aus ›Picknick‹. Dieser Film war um die Mitte der
fünfziger Jahre der große Knüller.«
    »Dann war dieser Ort nach dem Krieg
doch noch bewohnt.«
    »Dieses Haus jedenfalls.«
    Ich ging in die Küche. Tellerscherben
auf dem Fußboden, umgedrehte Besteckschubladen. Leere Bierdosen, auf dem
Ablaufbord der Handpumpenspüle aufgereiht. Das Schlafzimmer war ähnlich
chaotisch, billige Männer- und Frauenkleidung überall verstreut. Unterm Bett
fand ich einen Pappkoffer, leer, bis auf einen Kamm zum Haarehochstecken. Er
sah aus wie aus Elfenbein, war aber vermutlich aus Plastik.
    »Was ist hier passiert?«, fragte ich
Hy.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Was ist mit den Bewohnern geschehen?
Und wann?«
    »Keine Ahnung.«
    Die Atmosphäre im Haus war jetzt noch
bedrückender: Einsamkeit, Verlassenheit und noch etwas anderes. Ich konnte mich
des Gefühls nicht erwehren, dass hier etwas Furchtbares passiert war — so
furchtbar, dass nicht einmal die Jahrzehnte die emotionalen Spuren hatten
austilgen können.
    »Lass uns von hier verschwinden«, sagte
ich.
     
    »Diese kleine Ortschaft? Klar erinnere
ich mich an die.« Mr. Easley, der Besitzer der Wilderness Lodge, war ein
grauhaariger alter Mann, mit einem spitzen Vollbart, der auf halber Höhe seines
Brustkorbs endete. Er kam mir vor wie ein Goldsucher aus einem alten
Schwarzweißwestern. Er schien sich zu freuen, dass er jemanden zum Reden hatte,
und

Weitere Kostenlose Bücher