Gefaehrliche Tiefen
umschwimmen sollen? Mit dem Kajak hatte sie fünfzig Minuten für die Strecke gebraucht â so weit kam kein Taucher mit nur einer Druckluftflasche. Andererseits hatte er ja auch keine Luft mehr gehabt, zumindest am Schluss nicht. Vielleicht hatte ihn ein Seelöwe oder ein Hai zu jenen Felsen geschleppt. Aber da war auch noch das fehlende Atemreglermundstück und der Schnitt durch Hals und Gesicht â beides sah nicht nach dem Werk eines Seelöwen aus. Und falls es ein Hai gewesen war ⦠sie schüttelte den Kopf. Was ein Hai anrichten würde, wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen.
Die vergiftete Luft. Der Kapitän des Boots. Die Hotelbesitzerin. Alles Warnungen? In was zum Teufel war sie hier hineingeraten? Sie verschränkte die Arme vor der Brust, beugte sich vor und versuchte die Muskeln zu lockern, die ihre Schulterblätter zusammenzogen. Hatten Dan und sie Puerto Ayora wegen der uneindeutigen Warnhinweise verlassen, nur um dann auf einem Schiff zu landen, auf dem ihre Feinde sie die ganze Zeit im Auge behalten konnten? Tony sah genauso aus wie Ricardo, der feindselige Bootsbesitzer. War Tony ein Feind? Kapitän Quiroga besaà eine Fischkonservenfabrik. Würde er einen Wissenschaftler aus dem Weg räumen wollen, der versuchte, dem illegalen Fischfang Einhalt zu gebieten?
Würde sie als Nächste dran sein? Ein Schlag auf den Kopf und ab mit ihr über die Reling â schon würde sie Dan auf dem Grund des Meeresbodens Gesellschaft leisten. Sie konnte fast schon spüren, wie das kalte Wasser über ihr zusammenschlug. In einem solchen Moment dürfte das nicht einmal die schrecklichste Lösung sein.
Sam überlegte, ob sie ihren Vater in Kansas anrufen sollte, aber dann fiel ihr wieder ein, dass er in Europa war, auf der lang ersehnten Hochzeitsreise mit seiner alten Freundin und jetzigen Ehefrau Zola. Sam rief ihn nur selten an, und schon gar nicht, wenn jemand gestorben war. Sie wusste, ein Wort von ihm über Gottes Willen oder Friede im Himmel, und sie würde ihn anschreien, dass er sich seine Religion sonst wohin stecken könne. Am Ende würden sie sich beide elend fühlen. Ihr Vater war der Ansicht, sie führe ein verrücktes, gefährliches Leben, und wenn das hier nicht der perfekte Beweis dafür war, was dann? Sie legte das Telefon neben sich auf den Boden, griff nach der Reling und zog sich daran zur Kante vor. Dann streckte sie die FüÃe darüber, lieà sie ins Leere hinabbaumeln und stützte ihre schmerzende Stirn auf die kalte Metallreling.
Leise Schritte näherten sich. Zart wie ein Vogel legte sich eine Hand auf ihren Kopf. Abigail Birsky, die Frau des Pfarrers. Jetzt würde der Sermon gleich losgehen.
Die mysteriösen Wege des Allmächtigen. Die Engel singen, er ist jetzt an einem besseren Ort.
»Der Kapitän hat es uns gerade erzählt«, ertönte Abigails sanfte Stimme. »Ich bin hier, Liebes. Falls Sie reden möchten. Oder wenn ich Ihnen sonst irgendwie helfen kann.«
»Ich auch.«
Ãberrascht, eine männliche Stimme zu hören, sah Sam hoch. Ken strich sich nervös über den Schnurrbart, dann fuhr er fort: »Alles in Ordnung mit dir?« Er schien sich Sorgen zu machen, dass sie so nahe am Rand des Decks saÃ. Hinter ihm stand Joe Sanders, der mit seiner Frau Paige Händchen hielt.
»Ich habe nicht vor zu springen«, versicherte Sam ihnen. Sie hatte kein Verlangen zu sterben. »Ich muss einfach nur allein sein.«
»Willst du wirklich niemanden bei dir haben?«, fragte Ken.
»Wirklich.« Sie wollte so schnell wie möglich von diesem Schiff runter, wollte nach Hause fliegen und mit ihrem Kater Simon auf dem Schoà vor ihrem Kamin sitzen. Morgen würde sie als Erstes einen Flug buchen.
Die anderen gingen, aber Sam hatte trotzdem das Gefühl, nicht allein zu sein. Sie sah hinauf zur Brücke. Dort oben stand der Mann von der Besatzung, der ihr am Nachmittag im Maschinenraum begegnet war. Vermutlich hatte der arme Kerl den Auftrag, ein Auge auf sie zu werfen. Sie richtete den Blick wieder auf die dunkle Insel in der Ferne und auf das schwarze Wasser. Die gedämpften Stimmen der Passagiere und das Scheppern diverser Metallteile traten in den Hintergrund, überlagert vom Anklatschen der Wellen und dem gelegentlichen Schrei einer Möwe. Sie konnte nur noch daran denken, wie Dan durch all dieses Wasser trieb, weiter und immer
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