Gefaehrliche Tiefen
verlassen, um Ricardos Mutter zu heiraten. So etwas ist hier ein groÃer Skandal.«
»Leben beide Familien in derselben Stadt?«
Maxim schüttelte den Kopf. »Baquerizo Moreno«, er deutete mit dem Kinn auf Tony, »und Ricardo stammt aus Villamil.«
Puerto Villamil, die Hochburg der Fischer. Sie hätte Tony gern noch weiter nach seinem Halbbruder und den hiesigen Fischern ausgefragt, doch der verbissene Gesichtsaudruck des ersten Maats verhieà wenig Entgegenkommen. Und konnte sie ihm überhaupt irgendetwas glauben?
»Die Galapagosinseln sind eine kleine Gemeinde«, sagte Maxim und wiederholte damit, was Eduardo vor zwei Tagen gesagt hatte. »Viele sind irgendwie miteinander verwandt.«
Was ihr in Erinnerung rief, dass sie niemandem trauen sollte, der hier lebte.
Das
Panga
landete in der Post Office Bay zwischen Seelöwen, die in der Sonne dösten. Ein paar von ihnen öffneten die Augen oder bewegten eine Flosse über den braunen Sand, aber mehr Notiz nahmen sie von Boot und Touristen nicht.
Die Reisegruppe ging den Weg hinauf zu der hölzernen Briefkastentonne. Maxim erklärte, dass hier Seeleute mehr als zwei Jahrhunderte lang ihre Post eingeworfen hatten, in der Hoffnung, ein vorüberkommendes Schiff würde sie auf dem Rückweg mitnehmen. Heutzutage waren es ganz offensichtlich Touristen, die hier ihre Post einwarfen, wenn man das anhand der vielen bunten Postkarten beurteilen konnte, die Maxim aus der Tonne zog. Als er jedem von ihnen eine gab, wurde klar, dass jeweils andere Touristen dafür zuständig waren, sie an ihre eigentlichen Bestimmungsorte befördern zu lassen. Die Adresse auf der Postkarte, die er Sam in die Hand drückte, lautete Calgary, Alberta. Gut â Post nach Kanada war vergleichsweise günstig und von zu Hause aus leicht zu versenden. Brandon und Ronald warfen ihrerseits Postkarten ein, die jemand anderer mitnehmen sollte.
Maxim zeigte ihnen die Ãberreste eines norwegischen Fischerdorfs, das nach dem wirtschaftlichem Niedergang aufgegeben worden war, und sprach dann über einen Skandal, der sich 1930 auf der Insel ereignet hatte. Eine österreichische Baronin war mit ihren beiden Liebhabern hierhergezogen und wollte ein Luxushotel bauen. Damit hatte sie andere Familien verärgert, die sich bereits auf Floreana niedergelassen hatten, und plötzlich war sie auf mysteriöse Art und Weise »verschwunden« â zusammen mit einem ihrer Liebhaber. Der andere kam ebenfalls unter mysteriösen Umständen ums Leben, zusammen mit einem Fischer und einem weiteren Siedler. Maxim deutete an, dass die verbliebenen Einwohner mehr wussten, als sie preisgaben.
Jedes Mal, wenn Maxim die Wörter »Verschwinden« oder »Tod« benutzte, richtete irgendjemand aus der Gruppe den Blick auf Sam. Natürlich dachten alle an Dan, aber Sams Tränen waren inzwischen versiegt. Und was sie empfand, war eher Schuld, weil sie der menschlichen Rasse gegenüber nur noch eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung empfand. In der Geschichte der Menschheit wimmelte es nur so von derartigen Geschichten: Lass eine Handvoll Menschen auf einem begrenzten Raum wie zum Beispiel einer kleinen Insel aufeinandertreffen, und früher oder später gibt es Mord und Totschlag. Jeden Tag kamen Mörder mit ihren Verbrechen davon, überall auf der Welt. Es wäre so einfach, jemanden für immer zwischen den kahlen Inseln in den schnellen Strömungen »verschwinden« zu lassen. Würde Dr. Kazaki nur eine weitere auf den Galapagosinseln vermisste Person werden?
Zum Mittagessen trafen sie sich mit dem anderen Teil der Reisegruppe an einem weiteren Landeplatz, Punto Cormorant. Eduardo erklärte ihnen, dass der Strand seine grüne Farbe Olivinkristallen verdankte. Olivin, fügte er hinzu, sei verwandt mit einem grünen Edelstein namens Peridot. In Sams momentanem Zustand kamen ihr all diese Informationen völlig belanglos vor. Sie hörte ihren Vater sagen:
Das Leben geht weiter
. Doch was Sam brauchte, war ein Moment â oder genauer gesagt ein Tag â, an dem die Zeit stillstand, um Dans Tod zu markieren.
Die Gruppe wanderte einen kurzen Pfad hinunter zu einer kleinen Lagune, wo rosafarbene Flamingos Nahrung aus dem brackigen Wasser fischten. Sam machte ein Foto, auch wenn das Motiv eher ihrer Vorstellung von Florida oder Afrika entsprach als der einer Insel mitten im Pazifik. Die langbeinigen
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