Gefaehrliche Tiefen
wenn man ihn im Ernstfall nicht mal auftreiben konnte? War er in Gefahr, oder machte er sich gerade ein schönes Leben? Sie griff nach ihrem Satellitentelefon, nur um festzustellen, dass sie es auf dem Boot gelassen hatte. Vielleicht rief Chase gerade jetzt in diesem Moment an. Die Wirkung des Aspirins hatte nachgelassen, und erneut tat ihr der Kopf weh. Sie fühlte sich wie die letzte Idiotin. Vielleicht war sie das wirklich, wenn sie einen solchen Auftrag angenommen hatte.
Eduardo, der ebenfalls Dans Freund war, saà nur wenige Zentimeter entfernt. Neun weitere Leute befanden sich in Rufweite, und noch mehr warteten auf der
Papagayo
. Sie mochten vielleicht ein gewisses Mitgefühl aufbringen â Fremde blieben sie dennoch. Und sie konnte nicht ausschlieÃen, dass einer oder mehrere von ihnen Mörder waren. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.
Als ob Eduardo ihre Gedanken lesen könnte, berührte er sanft ihre Schulter und sagte: »Sam, Sie sind nicht allein. Wenn die anderen heute Nachmittag ins Hochland gehen, bringe ich Sie nach Ola Rock.«
12
Sam war dankbar, dass am Ola Rock so gut wie keine Strömung herrschte, zumindest soweit sie das von der Wasseroberfläche aus beurteilen konnte. Es war leicht nachzuvollziehen, warum die Felsformation den spanischen Namen für »Welle« trug. Das kleine Eiland hatte die Form einer dicken grauen, aufgestellten Flosse, die etwa sechzig Meter über der Wasseroberfläche in einem Schnörkel auslief, was ihm das Aussehen einer in Stein gemeiÃelten Welle gab. Ein Strand existierte nicht. Eduardo schaltete den Motor in den Leerlauf und lieà das Dingi sanft gegen den Felsen prallen. Der vom Wasser ausgewaschene Lavastein fiel steil in den ihn umgebenden Ozean ab. Sam hoffte, dass er unter Wasser nicht genauso steil war.
Sie lieà sich rückwärts über Bord fallen, wobei ihr schmerzhaft bewusst war, dass sie zum ersten Mal allein tauchte. Vor dem AnschlieÃen des Atemreglers an ihre Druckluftflasche hatte sie zunächst deren Sauerstoffgehalt überprüft. Jetzt leuchtete das Display ihres Tauchcomputers im Wasser auf, und sie registrierte erleichtert, dass ihre Ausrüstung normal funktionierte. Ein paar Minuten lieà sie sich an der Wasseroberfläche treiben und suchte den Bereich unter ihr nach Haien ab. Das Wasser war trüb und hatte eine grünliche Farbe, sodass sie nicht sehr weit sehen konnte â sie befand sich mitten in einem Algenteppich.
Klasse.
Da unten konnte alles Mögliche lauern. Sofort entstand vor ihrem geistigen Auge das Bild eines groÃen, weiÃen Hais, der mit offenem Maul auf sie zuschwamm.
Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie schon einmal im Dunkeln getaucht hatte: bei ihrem einzigen Nachttauchgang im pechschwarzen, eiskalten Wasser des Puget Sound. Im Vergleich dazu sollte dieser Tauchgang â bei Tag und in warmem Wasser â eigentlich ein Kinderspiel sein. Damals war sie allerdings zusammen mit vier anderen Tauchern und einem Tauchlehrer unterwegs gewesen. Egal, versuchte sie sich Mut zu machen. Luftblasen wanderten immer nach oben, auÃerdem hatte sie in ihrem Tauchcomputer einen Kompass und einen Tiefenmesser. Sie konnte also nicht völlig die Orientierung verlieren, oder?
Hör jetzt auf, dich verrückt zu machen
, schalt sie sich.
Leg einfach los, Zing.
Sie richtete sich am hinteren Ende des Boots auf und streckte die Arme nach ihrer Kamera aus. Eduardo reagierte so verängstigt, wie sie sich fühlte. Er hielt die Kamera ein Stück auÃerhalb ihrer Reichweite und sagte: »Aber seien Sie bitte besonders vorsichtig.«
»Genau das habe ich vor«, versprach sie ihm. »Ich zähle, mache ein paar Fotos und komme so schnell wie möglich wieder rauf.«
Er reichte ihr die Kamera. Sam befestigte den Riemen an einem Ring vorne an ihrer Tarierweste, dann lieà sie die restliche Luft heraus und atmete aus. Als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug, musste sie den Impuls niederkämpfen, wieder an die Oberfläche zu schieÃen.
Tauche niemals allein.
Wie oft hatte sie diesen Satz in Taucherhandbüchern gelesen? Wenn sie bei dem ersten Tauchgang nicht dabei gewesen wäre, hätte Dan nicht überlebt. Würde er noch leben, wenn sie ihn bei seinem letzten Tauchgang begleitet hätte? Oder wären sie beide gestorben?
Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt darüber nachzudenken. Sie hatte eine Aufgabe zu
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