Gefährliche Trauer
widersprach Hester überzeugt. »Octavia kannte ihren Vater, zudem war sie die einzige, die genug Mumm besaß, ihm die Stirn zu bieten - und seine Rachsucht zu ernten. Aber wie hätte sie sich sonst zur Wehr setzen können? Verbündete hatte sie nicht. Cyprian war anscheinend zufrieden damit, Gefangener in der Queen Anne Street zu bleiben. In gewisser Weise besaß er in Romola, deren Instinkte ausschließlich aufs eigene Überleben gerichtet waren und die Sir Basil aus diesem Grund niemals getrotzt hätte, eine Art Glückspfand. Fenella interessierte sich nur für sich selbst, Araminta schien in nahezu jedem Punkt auf der Seite ihres Vaters zu stehen. Myles Kellard stellte ein zusätzliches Problem, aber kaum eine Lösung dar, außerdem hätte auch er sich nie über Sir Basils Wünsche hinweggesetzt - schon gar nicht einem anderen Menschen zuliebe!«
»Lady Moidore?«
»Sie schien völlig an die Peripherie verschlagen worden zu sein, beziehungsweise sich dorthin zurückgezogen zu haben. Anfangs hatte sie sich für Octavias Heirat stark gemacht, danach sah es aber so aus, als ob ihre gesamten Kräfte aufgebraucht wären. Septimus hätte vielleicht für sie gekämpft, doch ihm fehlten die Waffen.«
»Und Harry war tot«, spann Monk den Faden weiter. »Er hatte eine Lücke in ihrem Leben hinterlassen, die durch nichts auszufüllen war. Sie muß ein Gefühl von Verzweiflung, Verrat und Auswegslosigkeit empfunden haben, das nahezu unerträglich war. Und sie sah keine Möglichkeit zurückzuschlagen.«
»Nahezu?« wiederholte Hester bitter. »Nahezu unerträglich? Erschöpft, am Boden, verwirrt und allein - was ist daran noch ›nahezu‹? Außerdem gab es eine Möglichkeit, ob sie sich dessen nun bewußt war oder nicht. Vielleicht ist ihr der Gedanke nie in den Sinn gekommen, aber ein Skandal hätte Basil schlimmer getroffen als alles andere - der grauenhafte Skandal eines Selbstmords in der Familie!« Ihre Stimme wurde angesichts der Tragik des Ganzen hart. »Seine eigene Tochter, die in seinem Haus lebt, sich unter seiner Obhut befindet, tut etwas dermaßen Jämmerliches, Anrüchiges, Gottloses und nimmt sich das Leben! Nicht still und heimlich mit einer Überdosis Laudanum, nicht, weil ein Liebhaber sie zurückgewiesen hatte - und für einen nachträglichen Schock wegen Harrys Tod war es auch zu spät. Nein, auf unangenehm blutige Weise in ihrem Schlafzimmer, vielleicht sogar in Basils Arbeitsraum, den verräterischen Brief noch in der Hand. Man hätte sie auf ungeweihtem Boden begraben, unter unzähligen anderen Sündern, denen jede Vergebung versagt war. Können Sie sich diese Schande vorstellen, sich ausmalen, was die Leute sagen würden? Die Blicke, das Geflüster, das jähe Schweigen? Die plötzlich ausbleibenden Einladungen, die Besuche bei Bekannten, die unerklärlicherweise nicht zu Hause sind, obwohl ihre Kutschen vor der Tür stehen und alle Lichter brennen? Wo er früher auf Bewunderung und Neid gestoßen war, würde er auf einmal nur noch Verachtung ernten und - schlimmstes aller Übel - Spott!«
Monks Gesicht war todernst. »Wenn nicht Annie, sondern ein Familienmitglied die Leiche gefunden hat«, sagte er, »muß es ein leichtes gewesen sein, das Messer zu entfernen, sie auf ihr Bett zu legen, das Neglige zu zerreißen, damit es so aussieht, als ob ein Kampf stattgefunden hätte, die Efeuranken vor dem Fenster abzubrechen und ein paar Wertgegenstände mitzunehmen. Alle Anzeichen deuteten auf Mord, eine zwar scheußliche, widerwärtige Sache, aber keine Schande. So etwas kann jedem passieren. Doch dann bin ich aufgetaucht und habe das Ganze zunichte gemacht, indem ich bewies, daß niemand eingebrochen sein konnte, der Mörder folglich unter den Hausbewohnern zu finden sein mußte.«
»Das ist das wirkliche Verbrechen. Nicht der Mord an Octavia durch Erstechen, sondern der sorgfältig eingefädelte Justizmord an Percival. Wie grauenhaft, wie gemein und hinterhältig - viel schlimmer als unsere erste Annahme!« sagte Hester aufgewühlt. »Aber welche Möglichkeit haben wir, das zu beweisen? Der oder die Täter werden unentdeckt bleiben, sie werden ungestraft davonkommen!«
»Ja, das Ganze ist ein Alptraum«, bestätigte Monk. »Ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wer es gewesen sein könnte. Jeder von ihnen hätte unter dem Skandal zu leiden gehabt. Cyprian und Romola kämen zum Beispiel in Frage, vielleicht sogar Cyprian allein. Er ist groß und kräftig genug, Octavia nach oben zu tragen und auf
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