Gefährliche Trauer
ein sonorer, hochgradig amüsierter Laut.
»Meine Liebe, Sie sind bestimmt nicht die erste junge Frau, die Schwierigkeiten hat, ihren Eindruck von Oliver Rathbone in Worte zu kleiden.«
»Scharfsinn und natürliche Autorität allein reichen kaum aus, um Menard Grey zu retten!« gab Hester schärfer als beabsichtigt zurück. Hoffentlich war Callandra sich darüber im klaren, daß ihre Heftigkeit von einer Menge dunkler Ahnungen herrührte, was den übernächsten Tag betraf - begleitet von der wachsenden Furcht, daß sie es nicht schaffen würde.
Am folgenden Morgen erfuhr sie aus der Zeitung über den Mord an Octavia Haslett in der Queen Anne Street. Da der Name des ermittelnden Polizeibeamten für das Interesse der Öffentlichkeit jedoch offensichtlich nicht von Belang war, rief ihr der Vorfall Monk nicht stärker ins Gedächtnis zurück, als es ohnehin der Fall war, wenn sie an das tragische Schicksal der Greys und, in diesem Zusammenhang, ihrer eigenen Familie erinnert wurde.
Dr. Pomeroy entpuppte sich als zwiegespalten, was ihre Bitte um Freistellung wegen der Zeugenaussage betraf. John Airdries Operation hatte endlich stattgefunden, das Kind schien sich ganz gut zu erholen; etwas später, und es wäre wahrscheinlich anders gewesen - der Kleine war doch schwächer, als Dr. Pomeroy gedacht hatte. Trotzdem ärgerte er sich über ihre Abwesenheit. Obwohl er ihr bereits des öfteren versichert hatte, wie entbehrlich sie sei, konnte er kaum vor ihr geheimhalten, in welche Bedrängnis er durch ihr Fehlen geriet. Sie beobachtete sein Dilemma mit Genugtuung, auch wenn diese einen leicht bitteren Beigeschmack hatte.
Die Gerichtsverhandlung fand vor dem Obersten Strafgerichtshof in Old Bailey statt. Da der Fall für viel Wirbel gesorgt hatte schließlich handelte es sich um den brutalen Mord an einem Exoffizier des Krimkriegs -, waren die Zuschauerbänke voll besetzt, zudem hatte jede Zeitung im Umkreis von hundert Kilometern einen Reporter geschickt. In den Straßen vor dem Gebäude wimmelte es von Zeitungsjungen, die die neueste Ausgabe durch die Luft schwangen, von Kutschen, aus denen ein nicht enden wollender Fahrgaststrom flutete, von Straßenhändlerkarren, auf denen sich alles mögliche auftürmte, von brüllenden Pasteten und Sandwichverkäufern und von Wägelchen mit heißer Erbsensuppe. Straßensänger rollten zugunsten der Unwissenden und all derer, die die Geschichte nicht oft genug hören konnten, den ganzen Fall noch einmal auf, natürlich gespickt mit einer Menge hinzugedichteter Details. Auch Ludgate Hill, Old Bailey und Newgate Street waren von Menschenmassen verstopft. Hätten Hester und Callandra nicht als Zeugen auftreten müssen, wäre ihnen ein Durchkommen schier unmöglich gewesen.
Die Atmosphäre im Gerichtshof selbst war vollkommen anders. Es war düster und ging unvorstellbar förmlich zu. Man konnte gar nicht anders als ständig daran denken, daß man es hier mit Seiner Majestät dem Gericht zu tun hatte, daß hier jede menschliche Marotte gnadenlos ausgemerzt wurde und einzig und allein blindes, unpersönliches Recht regierte.
Polizisten in dunkler Uniform, mit Zylinder, glänzenden Knöpfen und Gürteln; mit Perücken und wallenden Gewändern ausstaffierte Anwälte; herumhuschende Aufseher, die hier und da ein paar Leute zusammentrieben. Hester und Callandra wurden in einen Raum geführt, in dem sie warten sollten, bis man sie aufrief. Der Gerichtssaal war für sie gesperrt, damit sie nichts hören konnten, was ihre Aussagen eventuell beeinflußte.
Hester saß stumm da; sie fühlte sich ausgesprochen unwohl. Ein gutes Dutzendmal holte sie Luft, um etwas zu sagen, merkte aber schnell, daß es furchtbar banal klingen mußte. Nach einer halben Stunde betretenen Schweigens wurde die Tür von außen geöffnet. Sie erkannte die Schultern, noch bevor der Mann ganz hereingekommen war. Er stand mit dem Rücken zu ihnen und sprach mit jemand im Gang. Sie wurde augenblicklich wachsam, von gelinden Befürchtungen überfallen, war aber ganz sicher nicht aufgeregt.
»Guten Morgen, Lady Callandra - Miss Latterly.« Endlich drehte er sich um, zog die Tür zu und kam herein.
»Guten Morgen, Mr. Monk«, erwiderte Callandra mit leichtem Nicken.
»Guten Morgen, Mr. Monk«, echote Hester mit exakt derselben Bewegung. Als sie ihn so sah - die kantigen Gesichtszüge, die stechenden grauen Augen, die breite, leicht gebogene Nase, den Mund mit der dünnen Narbe -, tauchten sämtliche Erinnerungen an den
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