Gefährliche Trauer
Mordfall Grey wieder auf. Wut, Verwirrung, Mitleid und Angst, die kurzen Momente intensivsten Einverständnisses zwischen ihnen, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, dieses unvorstellbar befriedigende Verfolgen desselben Ziels.
Jetzt waren sie lediglich zwei Leute, die sich auf die Nerven gingen und nur durch den Wunsch zusammengebracht worden waren, Menard Grey weiteres Leid zu ersparen. Vielleicht trieb sie auch eine Art diffuses Verantwortungsgefühl, weil sie es gewesen waren, die die Wahrheit ans Licht gebracht hatten.
»Setzen Sie sich, Mr. Monk.« Es war eher eine Anweisung als eine Aufforderung. »Bitte machen Sie es sich bequem.«
Er blieb stehen.
Eine Weile war es totenstill. Hester konzentrierte sich bewußt auf die bevorstehende Aussage, auf die Fragen des Staatsanwalts, vor denen Rathbone sie gewarnt hatte, darauf, wie sie ungünstige Antworten vermeiden und verhindern konnte, daß sie sich zu unbedachten Äußerungen hinreißen ließ.
»Hat Mr. Rathbone Sie beraten?« fragte sie, ohne weiter nachzudenken.
Monks Brauen wölbten sich. »Ich habe schon öfter vor Gericht ausgesagt, Miss Latterly.« Seine Stimme triefte vor Spott. »Sogar in Fällen, die nicht ganz unbedeutend waren. Ich bin mit der Prozedur vertraut.«
Sie ärgerte sich über ihre eigene Dummheit, weil sie sich einem derartigen Rüffel ausgesetzt hatte, und über Monk, weil er es natürlich nicht lassen konnte, ihn zu erteilen. Instinktiv konterte sie mit der größten Gemeinheit, die ihr einfiel.
»Wie ich sehe, hat sich Ihr Gedächtnis seit unserer letzten Begegnung erheblich verbessert. Das war mir nicht klar, sonst hätte ich die Frage nicht gestellt. Ich habe mich lediglich bemüht, Ihnen zu helfen, aber das brauchen Sie anscheinend nicht mehr.«
Alles Blut wich aus Monks Gesicht, bis nur noch zwei pinkfarbene Flecken auf seinen Wangen übrig waren. Er zermarterte sich das Hirn nach einer gesalzenen Entgegnung.
»Ich habe zwar viel vergessen, Miss Latterly, aber ich befinde mich noch im Vorteil gegenüber denen, die überhaupt keine Ahnung haben!« sagte er bissig und wandte sich ab.
Callandra lächelte; sie hatte nicht vor, sich einzumischen.
»Ich habe nicht von meinem Beistand gesprochen, Mr. Monk, sondern von Mr. Rathbones«, schnappte Hester zurück. »Und wenn Sie tatsächlich der Ansicht sind, Sie würden sich besser auskennen als er, kann ich nur hoffen, Sie irren sich nicht und tun es wirklich. Nicht etwa um Ihretwillen - Sie spielen momentan gar keine Rolle -, sondern wegen Menard Grey. Ich darf wohl davon ausgehen, daß Sie nicht vergessen haben, wieso wir hier sind?«
Sie wußte, daß sie diese Schlacht gewonnen hatte.
»Natürlich nicht«, sagte er kalt. Er stand mit dem Rücken zu ihr, die Hände in den Taschen vergraben. »Ich habe meine augenblicklichen Ermittlungen an Sergeant Evan übertragen und bin früher hierhergekommen, falls Mr. Rathbone den Wunsch haben sollte, mich zu sprechen, aber ich habe nicht die Absicht, mich ihm aufzudrängen.«
»Vielleicht weiß er nicht, daß Sie schon da sind«, beharrte Hester.
Er fuhr herum und sah ihr direkt in die Augen. »Können Sie nicht einen Moment aufhören, die Nase in andrer Leute Angelegenheiten zu stecken und sich einzubilden, man käme ohne Ihre Anweisungen nicht zurecht, Miss Latterly! Ich habe seinem Sekretär Bescheid gegeben, als ich kam.«
»Dann wäre es schon aus reiner Höflichkeit angebracht gewesen, mir das zu sagen, als ich Sie danach gefragt habe!« Daß er sie der Einmischung beschuldigte, machte sie fuchsteufelswild. Schließlich war der Vorwurf absolut ungerechtfertigt, wenigstens zum großen Teil - oder doch zu einem gewissen Grad! »Aber so etwas wie normale Höflichkeit scheint für Sie nicht zu existieren.«
»Sie sind auch kein normaler Mensch, Miss Latterly.« Seine Augen starrten sie bitterböse an. »Sie sind anmaßend und herrisch und anscheinend von dem Wahn besessen, ohne Sie wäre jeder verloren. Sie schaffen es tatsächlich, die schlimmsten Eigenschaften einer Gouvernante mit der Unbarmherzigkeit einer Armenhausaufseherin zu vereinen. Sie hätten beim Militär bleiben sollen - dafür sind Sie hervorragend geeignet.«
So eine Frechheit! Er wußte genau, wie sehr sie die Militärkommandantur wegen ihrer bodenlosen Unfähigkeit, die purer Selbstherrlichkeit entsprang, verachtete. Wie viele Menschen hatten deshalb auf sinnlose und furchtbare Weise sterben müssen! Sie war dermaßen erbost, daß sie kaum ein Wort
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