Gefährliche Trauer
verfügen über genügend Phantasie, um sich aus dem Alltäglichen herauszuwinden, die Grausamkeit der Realität zu vergessen und von der Kraft ihrer Träume zu leben.« Sein Gesicht wirkte plötzlich entspannt. Nachsicht und Verständnis hatten die tiefen Furchen geglättet. »Sie können ganz nach Belieben Stimmungen heraufbeschwören und ein oder zwei Stunden daran glauben. Das erfordert Mut, Mr. Monk; es erfordert außergewöhnlich viel innere Kraft. Die Außenwelt, Menschen wie Basil, findet so etwas lächerlich - ich finde es überaus ermutigend.«
Von einem der Nebentische erhob sich dröhnendes Gelächter.
Septimus' Aufmerksamkeit schweifte einen Augenblick dorthin ab, ehe sie sich wieder auf Monk richtete. »Wenn wir das, was als normal gilt, hinter uns lassen und trotz der Macht des Offenkundigen glauben können, was wir glauben möchten, dann sind wir zumindest für eine Weile die Meister unseres Schicksals und können uns die Welt so hinzaubern, wie wir sie haben wollen. Ich tue das lieber mit Hilfe von Schauspielern als mit Wein oder einer Pfeife Opium.«
Jemand erklomm einen Stuhl und stimmte eine glühende Rede an, begleitet von Buhrufen und donnerndem Applaus.
»Außerdem mag ich ihren Sinn für Humor«, fuhr Septimus fort. »Sie wissen, wie man über andere und vor allem über sich selbst lacht - sie lachen gern, sie sehen darin weder eine Sünde noch eine Gefahr für die persönliche Würde. Und sie streiten gern. Sie sind nicht tödlich beleidigt, wenn jemand ihre Worte in Frage stellt, sie erwarten sogar, angezweifelt zu werden.« Er lächelte wehmütig. »Wenn man ihnen eine neue Idee präsentiert, spielen sie begeistert damit herum - wie ein Kind mit einem heiß ersehnten Spielzeug. Schon möglich, daß sie eitel sind, Mr. Monk. Das sind sie sogar mit hundertprozentiger Sicherheit, so eitel wie eine ganze Horde Pfauen, die den lieben langen Tag nichts anderes tun, als radzuschlagen und aus vollem Halse herumzukreischen.« Er schaute Monk offen und ohne jede Hinterhältigkeit an. »Sie sind ehrgeizig, egozentrisch, streitsüchtig und oft extrem oberflächlich.«
Monk verspürte einen schmerzlichen Anflug von Schuldbewußtsein, als ob ein Pfeil an seinem Gesicht abgeprallt wäre und dadurch sein Ziel verfehlt hätte.
»Aber sie amüsieren mich«, fuhr Septimus leise fort. »Und sie hören mir zu, ohne mich zu verurteilen. Noch nie hat einer von ihnen mir einzureden versucht, daß ich die moralische oder gesellschaftliche Verpflichtung zum Anderssein hätte. Nein, Mr. Monk, ich fühle mich wohl hier. Hier kann ich mich entspannen.«
»Das haben Sie sehr schön gesagt, Sir.« Monk lächelte ihn an, ausnahmsweise einmal ohne jede Falschheit. »Ich verstehe, was Sie meinen. Bitte erzählen Sie mir von Mr. Kellard.«
Schlagartig wich alle Freude aus Septimus' Gesicht.
»Warum? Denken Sie, er hat etwas mit Tavies Tod zu tun?«
»Halten Sie das für möglich?«
Septimus zuckte mit den Achseln und stellte seinen Krug jäh ab.
»Keine Ahnung. Ich mag den Mann nicht. Meine Meinung dürfte Ihnen nicht viel helfen.«
»Warum mögen Sie ihn nicht, Mr. Thirsk?«
Doch der alte, militärische Ehrenkodex tat immer noch seine Wirkung. Septimus brachte ein schiefes, selbstironisches Lächeln zustande. »Reiner Instinkt, Mr. Monk«, log er, und Monk wußte, daß es nicht der Wahrheit entsprach. »Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten, weder unser Naturell noch unsere Interessen betreffend. Er ist Bankier; ich war einmal Soldat, und bin heute nur noch einer, der die Zeit totschlägt und die Gesellschaft junger Männer genießt, die schauspielern und Geschichten über Verbrechen, Leidenschaft und die Unterwelt zum besten geben. Ich lache über die falschen Dinge und trinke bisweilen ein Glas zuviel. Ich habe mein Leben wegen der Liebe zu einer Frau ruiniert.« Er drehte den Krug in seinen Händen, wobei seine Finger fast zärtlich über die Oberfläche strichen.
»Myles hat für so etwas nur Verachtung übrig. Ich denke, es ist absurd - aber nicht verdammenswert. Wenigstens war ich zu einem derartigen Gefühl imstande. Das spricht doch immerhin ein bißchen für mich.«
»Es spricht ganz enorm für Sie!« Monk staunte über sich selbst. Er hatte keinerlei Erinnerung daran, selbst einmal geliebt zu haben - geschweige denn zu einem solchen Preis -, dennoch wußte er mit absoluter Sicherheit, daß es das beste Zeichen für die eigene Lebendigkeit war, wenn einem ein Mensch oder eine Sache genügend am Herzen
Weitere Kostenlose Bücher