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Gefährliche Trauer

Gefährliche Trauer

Titel: Gefährliche Trauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Hester in ihrer Unterkunft eintraf und ihr erhitztes Gemüt sich ein wenig abgekühlt hatte, wurde ihr allmählich die Tragweite ihrer Tat bewußt. Sie hatte sich nicht nur um eine sinnvolle Beschäftigung und die finanziellen Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts gebracht, sie hatte darüber hinaus Callandra Daviots Vertrauen enttäuscht. Der Name, mit dem die Freundin für sie gebürgt hatte, war durch ihr leichtfertiges Benehmen in Verruf geraten.
    Sie zwang sich nur deshalb zu einem spätnachmittäglichen Mahl, um ihre Wirtin nicht vor den Kopf zu stoßen. Es schmeckte nach nichts. Um fünf Uhr dämmerte es bereits. Nachdem sie die Vorhänge zugezogen und Licht gemacht hatte, schien der Raum plötzlich enger zu werden und sie in aufgezwungener Untätigkeit und völliger Isolation einzuschließen. Wie sollte sie den morgigen Tag hinter sich bringen? Kein Krankenhaus mehr, keine Patienten, um die sie sich kümmern mußte. Sie war absolut überflüssig, niemand brauchte sie. Die Vorstellung war fürchterlich, und wenn sie ihr zu lange nachhing, kam sie vermutlich an einen Punkt, wo sie nur noch den Wunsch hatte, sich ins Bett zu verkriechen und nie wieder herauszukommen.
    Zudem plagte sie der ernüchternde Gedanke, in ein oder zwei Wochen ihre gesamten Ersparnisse aufgebraucht zu haben, ihr Domizil aufgeben und als Bittstellerin bei ihrem Bruder Charles anklopfen zu müssen, damit er ihr ein Dach über dem Kopf gewährte, bis sie - ja, bis sie was? Eine andere Beschäftigung auf dem Gebiet der Krankenpflege zu finden würde extrem schwierig, wenn nicht unmöglich sein.
    Voller Abscheu spürte Hester, daß sie im Begriff war, in Tränen auszubrechen. Es mußte etwas geschehen. Sofort! Alles war besser, als in diesem heruntergekommenen Zimmer zu sitzen, dem Zischen der Gaslampen zu lauschen und in Selbstmitleid zu zerfließen. Da war zum Beispiel die unangenehme Pflicht, Callandra zu beichten. Das schuldete sie ihr, und sie tat es besser von Angesicht zu Angesicht als durch einen Brief. Warum die Sache also nicht gleich hinter sich bringen? Schlimmer, als in Grübeleien versunken die Zeit totzuschlagen, konnte es kaum werden.
    Hester warf ihren besten Mantel über - sie besaß bloß zwei, wovon einer jedoch eindeutig kleidsamer und weniger zweckdienlich war -, setzte einen leidlich hübschen Hut auf und machte sich auf den Weg. Nachdem sie endlich einen Hansom aufgetrieben hatte, nannte sie dem Kutscher Callandra Daviots Adresse.
    Sie erreichte ihr Ziel um fünf vor sieben. Erleichtert stellte sie fest, daß Callandra zu Hause war und keinen Besuch hatte. Sie fragte, ob sie Lady Callandra sprechen könnte, und wurde kommentarlos von dem Mädchen hereingelassen.
    Wenige Minuten später kam Callandra die Treppe herunter. Sie trug ein Kleid, das ihrer Ansicht nach der neuesten Mode entsprach, in Wirklichkeit seit mindestens zwei Jahren als unmodern galt und, was die Farben anbelangte, nicht besonders schmeichelhaft war. Obwohl sie ihr Ankleidezimmer erst vor einem Moment verlassen haben mußte, begann ihre Frisur bereits heftig gegen die sie zusammenhaltenden Haarnadeln zu rebellieren. Dieser etwas sonderbare Gesamteindruck wurde jedoch durch die Intelligenz und Vitalität in ihren Zügen mehr als wettgemacht. Außerdem strahlte sie vor Freude, Hester zu sehen - trotz der späten Stunde und trotz fehlender Vorankündigung. Sie mußte nur einen einzigen Blick auf Hester werfen, um zu wissen, daß etwas nicht in Ordnung war.
    »Was haben Sie, meine Liebe?« Sie hatte mittlerweile die unterste Stufe erreicht. »Was ist passiert?«
    Es bestand nicht die geringste Veranlassung auszuweichen, Callandra gegenüber schon gar nicht.
    »Ich habe einem Kind ohne Erlaubnis des Arztes Medikamente verabreicht. Er war nicht da. Das Kind scheint sich wieder gut zu erholen, aber ich bin entlassen worden.« So, jetzt war es heraus. Hester forschte in Callandras Gesicht.
    »Aha.« Callandras Brauen hoben sich lediglich um Millimeter. »Und das Kind war sehr krank, nehme ich an?«
    »Es hatte hohes Fieber und stand kurz vor dem Delirium.«
    »Was haben Sie ihm gegeben?«
    »Chinin, Theriak, Hoffman's Liquor und etwas Bier, um den bitteren Geschmack abzuschwächen.«
    »Klingt doch ganz vernünftig.« Callandra ging zum Salon voraus. »Stand Ihnen bloß nicht zu.«
    »Richtig«, bestätigte Hester kleinlaut.
    Callandra zog die Tür hinter sich ins Schloß. »Und Sie bedauern es nicht im geringsten«, fügte sie hinzu. »Ich vermute,

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