Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
jeder möglichen Schusslinie zu entfernen.
Drake war ein Bodenkämpfer. Augenblicklich ließ er sich auf den kalten, ölverschmierten Beton fallen. Wer auch immer der Mann war, Drake wusste, dass er sich in diesem Moment ausschließlich auf den Schuss konzentrierte und er dadurch kopflastig war. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Hände und Augen gerichtet, vermutlich spürte er seine Füße nicht einmal.
Drake hatte trainiert, sich während eines Kampfes sämtlicher Teile seines Körpers bewusst zu sein, aber er wusste, dass diese Fähigkeit selten war. Er ließ sich fallen und streckte blitzartig ein Bein aus. Seine Ferse hakte sich um den Fuß des Schützen und warf den Mann mit einem Footlock um.
Er hatte Sambo von einem der russischen Meister gelernt. Wenn er seinen Gegner erst mal zu Boden gebracht hatte, gehörte der Mann ihm.
Der Mann schwankte und fiel. Er war so groß, wie Drake aufgrund der Schallquelle intuitiv errechnet hatte, aber er war schwerer, als Drake es erwartet hatte. Er fiel ungünstig: direkt auf Drakes linkes Knie. Ein rot glühender Schmerz schoss durch das Gelenk, beinahe unerträglich. Eine Sekunde lang überlegte er, ob es gebrochen sein könnte, blendete den Gedanken aber gleich wieder aus. Wenn es so war, gab es nichts, was er deswegen tun könnte.
Allerdings glaubte er es eher nicht. Er kannte das Gefühl einer schweren Verletzung, und es fühlte sich anders an. Dies war nur Schmerz. Schmerz konnte er ignorieren.
Auch wenn Drake unter dem Mann lag, hielt er doch immer noch dessen Bein fest und stemmte dem Gegner den Ellbogen gegen den Hals. Doch mit seinem verwundeten Bein war er nicht in der Lage, den Unterkörper des Mannes zu blockieren. Durch die dicke Daunenjacke hindurch konnte Drake fühlen, dass sein Gegner kräftig war, muskelbepackt, könnte man sagen. Ungewöhnlich für einen Schützen … und sein verdammtes Pech.
Aber auch wenn Drake nicht ganz so massiv war, war er doch stark und fit. Seine Hände waren besonders stark, nachdem er sein Leben lang Judo betrieben hatte. Schwitzend und heftige Grunzlaute ausstoßend, bewegte er seine Hand nach unten, wo der Schütze seine Waffe festhielt, und versuchte, sie ihm aus der Hand zu drehen.
Der Schütze war stark, aber Drake war stärker.
Er grub den Daumen tief in die Sehnen auf der Innenseite des Handgelenks seines Gegners. Erst fühlte er Muskeln, dann Knochen unter seinen Fingern. Er verstärkte den Griff, als sich ein Schuss löste. Zu seinem Glück zielte die Mündung von ihm weg, und die Kugel prallte nahezu lautlos von der Ziegelmauer ab, sodass Fragmente gegen die Fensterscheibe prasselten und dann auf sie herabregneten.
Drake verstärkte den Druck seines Daumens, spürte, wie der Mann vor Schmerz stöhnte. Noch eine Sekunde, und der Griff des Mannes löste sich, die Waffe fiel mit leisem Poltern auf den Boden. Drake brach dem Mann das Handgelenk und hob die Waffe auf. Eine SIG P229.
Eine Seitentür öffnete sich, und ein längliches Rechteck aus Licht fiel auf die dreckige Gasse. Zwei Menschen standen im Türrahmen, hinter ihnen zwei weitere Männer. Eine blasse, wunderschöne Frau, der die Mündung einer Beretta 84 mit solcher Kraft an die Schläfe gehalten wurde, dass ihr das Blut in einem dünnen Rinnsal über die Seite ihres Gesichts lief. Der Mann, der ihr die Waffe an die Schläfe hielt, war ein großer, langhaariger Latino mit schlechter Haut und kalten, grausamen Augen in einem langen Ledermantel. Hinter ihm standen noch zwei weitere Männer, dem Anschein nach ebenfalls Latinos, etwas kleiner als er, aber nicht minder bösartig. Mitglieder einer Gang.
Und damit waren die Karten neu verteilt – denn die Frau, der das Blut übers Gesicht strömte, war Grace Larsen.
„Lass die Waffe fallen. Sofort!“ Die Stimme des großen Latinos war kalt, leicht heiser.
Drake zögerte. Er besaß noch andere Waffen als die SIG . Er hatte eine Glock 19 in einem Schulterholster und eine Tomcat im Hosenbund, aber sein Instinkt sträubte sich mit aller Macht dagegen, die SIG aufzugeben. Wenn er Grace Larsen lebend aus dieser Situation herausholen wollte, brauchte er jeden Vorteil, den er kriegen konnte.
„Wirf sie weg!“, knurrte der Mann. Er legte den Arm um Grace’ wunderschönen Hals. Ihre Nasenflügel waren weiß und weit geöffnet, ihre Lippen begannen, blau zu werden. Er schnitt ihr den Sauerstoff ab.
Drake konnte ihm den Arm wegschießen. Es wäre nicht das erste Mal. Aber er konnte nicht garantieren, dass
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