Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
hatte diese vier Kriminellen sehr wütend gemacht, und wenn sie der Theorie folgte, dass der Feind deines Feindes dein Freund ist, war sie also auf seiner Seite. So wie er auf ihrer. Er hatte sich entwaffnen lassen und würde vermutlich jetzt auf der Stelle sterben, damit ihr Leben verschont wurde.
Nein . Jede einzelne Zelle in ihrem Körper wehrte sich gegen diese Vorstellung. Er würde nicht sterben, abgeschlachtet wie ein Tier. Das würde sie nicht zulassen. Abgesehen von allem anderen wusste sie, dass sie in dem Moment, in dem er starb, ebenfalls verloren war. Sie hatte diesen Verbrechern ins Gesicht gesehen. Sie gehörten nicht zu der Sorte, die Zeugen am Leben ließ.
Zusammen mit einem Rest Sauerstoff strömte eine Art elektrisches Pulsieren durch sie hindurch, das sie erdete, ihr Kraft gab. Sie war nicht bereit zu sterben. Nicht hier, in dieser dreckigen Gasse, und nicht jetzt, zwei Monate vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag.
Genauso wenig, wie er sterben würde. Sie sah ihm in die Augen, die vom tiefsten Braun waren, das sie je gesehen hatte. Sein Blick war klar, direkt und traurig. Grace fing seinen Blick auf, bemühte sich, ihm klarzumachen, dass er sie ansehen sollte, ihren Gedankengängen folgen sollte, und ließ den Blick auf ihre Handtasche fallen. Er konnte sehen, dass die Schließe offen stand. Sie sah gezielt auf ihre Tasche, auf ihn, auf den Mann, der sie festhielt. Wieder und immer wieder.
Er begriff. Verschwunden war die Aura der Resignation und der Niederlage. Vor Grace’ Augen verwandelte er sich wieder in einen Krieger. Seine breite Brust dehnte sich, als er tief Luft holte, wie Schwimmer es taten, ehe sie eine Zeit lang unter Wasser tauchten. Seine Haltung veränderte sich, wurde federnd, er balancierte auf den Fußballen. Den anderen Männern schien seine Veränderung gar nicht aufzufallen. Sie freuten sich immer noch diebisch über den sicheren Sieg und wurden unaufmerksam.
Es war perfekt.
Grace hatte keine Ahnung, wie gut dieser Mann als Kämpfer war, aber sie war bereit, alles zu riskieren, um es herauszufinden. Und wenn er es nicht schaffte, vier Männer zu überwältigen, würde sie doch lieber durch einen Schuss in den Kopf sterben, als langsam zu Tode gefoltert werden.
„He!“, fuhr Ledermantel ihn an. „Hast du nicht gehört? Dreh dich sofort um, du Arschloch, oder ich schieß ihr irgendwas weg!“
Ledermantel ließ sich von dem Drama ablenken. Wie alle Schlägertypen genoss er es, die Kontrolle zu haben, weidete sich an seinem Sieg, noch ehe der Sieg sein war, nur weil es undenkbar war zu verlieren. Sie kannte Leute wie ihn, die Gefallen daran fanden, überwältigende Macht über andere auszuüben, weil es ihr Ego stärkte. Und Ledermantels Ego musste in diesem Moment ganz schön aufgebläht sein. Er bedrohte eine Frau mit einer Waffe und stand einem unbewaffneten Mann mit einer Übermacht von vier zu einem gegenüber. Das war die Art von Gewinnchance, die solche Fieslinge liebten.
Grace spürte, dass er sich entspannte, unvorsichtig wurde, bereit, die nächsten Minuten so richtig auszukosten. Soweit es ihn betraf, war die Sache so gut wie erledigt.
Nur über ihre Leiche.
Sie wartete noch eine Sekunde lang, bis sich Ledermantels Griff noch ein wenig mehr gelockert hatte, nickte dem Mann scharf zu, in der Hoffnung, er werde sie verstehen, griff blitzschnell in ihre Tasche, hielt Ledermantel die Dose mit dem Pfefferspray vors Gesicht und sprühte ihm voll in die Augen.
Sein Brüllen konnte man sicher noch in New Jersey hören. Die große schwarze Waffe fiel polternd auf die Straße, als er sich beide Hände vor die Augen hielt und vor Schmerz und Wut brüllte wie am Spieß.
Was als Nächstes geschah, war kaum zu glauben. Der Dunkelhaarige hatte sich so schnell bewegt, dass sie ihm fast nicht folgen konnte. Noch ehe ihre Hand vor Ledermantels Gesicht angekommen war, war er schon in der Luft, wirbelte herum und versetzte seinen Gegnern einen wuchtigen Tritt nach dem anderen. Sein Fuß schnellte vor, und kaum war er wieder gelandet, wirbelte er auch schon erneut durch die Luft.
Grace wankte ein paar Schritte zurück. Sie hoffte nur, der dunkelhaarige Mann wusste, was er tat, da sie ihr Leben soeben in seine Hände gelegt hatte. Ledermantel würde sie mit Gewissheit erschießen, genau wie er es gesagt hatte, wenn er sie noch einmal in die Hände bekam.
Sie fielen um wie die Fliegen: eins, zwei, drei, vier. Sie hatte immer noch nicht begriffen, was sie gerade gesehen
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