Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
hatte ihr Vater angefangen, ihn zu verachten. Aber an jenem ersten Abend war alles eitel Sonnenschein gewesen.
Sie … tja, sie hatte sich blindlings in ihn verliebt. Sie war so blind gewesen, dass sie ein paar Monate später ihre Jungfräulichkeit an ihn verloren hatte.
Doch an jenem Abend hatte Mom das Wohnzimmer im Kerzenschein erstrahlen lassen. Ihre Mutter hatte Kerzen geliebt und sie zu jeder passenden Gelegenheit angezündet, manchmal auch einfach nur, weil sie sie so mochte.
Die Erinnerung an jenen Abend erfüllte sie immer wieder mit Wärme. Sie erinnerte sich sogar noch an die einzelnen Gerüche, die miteinander verschmolzen waren: Moms Diorissimo, heißes Kerzenwachs, der Rauch der brennenden Holzscheite, die Kuchen und Scones der Köchin, Earl-Grey-Tee und Dads Bourbon. Ein Duft der Freude und des Feierns, der einem rasch zu Kopf stieg.
Sie hatte Klavier gespielt, und sie hatten Weihnachtslieder gesungen. Sie hatte …
»… gespielt?«
Mit einem Ruck landete Caroline wieder in der Gegenwart. Ihr Untermieter saß neben ihr. Nicht so dicht, dass es ihr unangenehm gewesen wäre, aber dicht genug, dass sie seine Körperhitze spürte und fühlen konnte, wie sich die Luft bewegte und das Sofa federte, als er sich vorbeugte, um seine Tasse auf den Tisch zu stellen. Als sie ihn jetzt so nahe vor sich sah, war sie von seiner schieren Größe überwältigt. Es schien, als ob seine Schultern das halbe Sofa einnähmen.
Ihre Kaffeetasse – die von absolut durchschnittlicher Größe war – sah in seinen Händen winzig aus. Seine Hände hatten etwas Faszinierendes, sie waren so ganz anders als die Hände jedes anderen Mannes, den sie kannte. Obwohl sie riesig waren und die Haut sichtlich rau, so als ob er häufig draußen arbeitete, waren sie zugleich perfekt geformt, mit langgliedrigen Fingern – elegant und stark zugleich –, und den Handrücken zierte ein leichter schwarzer Flaum. Die Fingernägel waren sauber, hatten aber offensichtlich noch nie eine Maniküre erfahren, ganz im Gegensatz zu Sanders’ Händen, die blass und weich waren, mit perfekt polierten Nägeln.
Oh mein Gott! Jetzt machte sie es schon wieder. Ihre Gedanken schweiften ab. Dabei hatte er gerade etwas gesagt. »Wie bitte?«
Jack neigte den Kopf in Richtung des Klaviers. Seine Stimme klang geduldig. Er war so ein starker Mann. Ein Soldat. Vermutlich war das der Grund dafür, dass er so geduldig war und nicht die Augen verdrehte und seine Stimme gegenüber der verrückten Frau erhob, die nicht eine Sekunde lang bei der Sache bleiben konnte.
»Wie ich sehe, haben Sie ein Klavier. Ich nehme an, Sie spielen. Ich würde Sie schrecklich gerne spielen hören.«
Nein, auf gar keinen Fall , war ihr erster Gedanke, und sie musste die Zähne fest aufeinanderbeißen, damit die Worte nicht aus ihr herausplatzten.
Sie würde auf keinen Fall spielen. Sie hatte seit Tobys Tod nicht mehr gespielt. Es war noch nicht genug Zeit vergangen. Ihre Gefühle lagen noch viel zu dicht unter der Oberfläche, die Erinnerungen waren zu deutlich, der Schmerz immer noch rasiermesserscharf …
»Bitte«, sagte er und wartete. Er beobachtete sie geduldig.
Ihre Brust fühlte sich so eng an, dass sie kaum noch Luft bekam. Der Gedanke, sich ans Klavier zu setzen, verursachte ihr eine leichte Übelkeit, aber wie konnte sie ablehnen? Er konnte unmöglich begreifen, was er da von ihr verlangte. Ihm seinen Wunsch abzuschlagen würde klingen, als ob sie den Verstand verloren hätte. Oder aber – noch viel schlimmer bei einer Vermieterin – es würde sie unhöflich erscheinen lassen.
Sie sah zu Jack auf. Er beobachtete sie ruhig, mit dunklen, durchdringenden Augen. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Dann sah sie wieder auf ihre Hände hinab, Hände, die sich danach sehnten, die Tasten zu berühren und Trost von ihnen zu empfangen, Hände, die zugleich aber auch niemals wieder Klavier spielen wollten.
Es war regelrecht unheimlich.
Caroline hatte das Gefühl, am Rand eines tiefen, unergründlichen Abgrunds zu stehen, aus dem kein Weg zurückführen würde. Sie hatte die Wahl: Entweder machte sie einen Schritt nach vorn und fiel in den gähnenden Abgrund ewiger Trauer, als Geist einer Frau, der ausschließlich Geister Gesellschaft leisteten und die für alle Zeit die Vergangenheit beweinte. Oder aber sie trat zurück und schaffte es irgendwie, ihr Leben zurückzuerobern und sich so etwas wie eine Zukunft aufzubauen.
Sie musste aufhören, in der Vergangenheit zu
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