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Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Titel: Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Marie Rice
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leben. Sie musste aufhören zu trauern. Sie musste aufhören, ohne Unterlass an Toby und ihre Eltern zu denken. Sie musste auf der Stelle damit aufhören.
    Es war so schwer. Aber es musste sein. Sie konnte es schaffen. Im Lauf der letzten sechs Jahre hatte sie gelernt, wie man schwierige Dinge erledigte. Wieder und immer wieder.
    Also setzte sie ein Lächeln auf, zog die Mundwinkel nach oben und ließ die Zähne aufblitzen, in der Hoffnung, er würde nicht merken, wie falsch es war.
    »Na gut«, sagte sie mit zusammengeschnürter Kehle. »Selbstverständlich werde ich Ihnen etwas vorspielen.«
    Sie stand entschlossen auf und ging zum Klavier. Immerhin bestand die Chance, dass es sich im Lauf der letzten zwei Monate verstimmt hatte. Bei ihrem launischen Heizkessel hatte es weiß Gott mehr als genug Temperaturschwankungen gegeben, um das Holz zu verziehen. Und wenn das Klavier verstimmt war, na ja, das wäre die perfekte Ausrede, um nicht spielen zu müssen. Das wäre dann nicht ihr Fehler.
    Sie blieb vor dem großen schwarzen Klavier stehen und spielte rasch die Tonleiter. Die Noten schallten hell und klar durch den Raum. Das Klavier war perfekt gestimmt. Ihr blieb nichts anderes übrig – sie musste sich dem jetzt einfach stellen.
    Sie biss die Zähne zusammen und setzte sich. Gleich darauf wandte sie sich überrascht um, als Jack die Kerzen in den Messinghaltern zu beiden Seiten des Klaviers mit einem der langen Streichhölzer, die sie neben dem Kamin aufbewahrte, anzündete.
    »Es sieht so hübsch aus«, sagte er und blies das Streichholz aus.
    Caroline seufzte. Ja, es war wirklich hübsch.
    Sie sah zu ihm auf. »Was soll ich denn für Sie spielen? Haben Sie ein Lieblingsweihnachtslied? Mein Repertoire an Weihnachtsliedern ist ziemlich umfangreich.«
    »Nein, bitte keine Weihnachtslieder. Ich bin in letzter Zeit auf sämtlichen Flughäfen viel zu oft damit berieselt worden.« Er tippte auf die Noten vor ihr. »Wie wär’s damit? Das muss das Letzte sein, was Sie gespielt haben.«
    Caroline erstarrte. »Das« waren die Noten zu Das Phantom der Oper . Das hatte sie Toby in den letzten beiden Wochen vor seinem Tod unaufhörlich vorgespielt. Bitte, Gott, das nicht!
    Ein Weihnachtslied wäre kein Problem gewesen. Sie hätte eines wählen können, an das sie keine besonderen Erinnerungen knüpfte. »Stille Nacht« vielleicht. Oder »Hark the Herald Angels sing«. Das Einzige, woran die sie erinnerten, war die Schule.
    Aber Das Phantom der Oper …
    Oh du lieber, gütiger Gott! Alles, nur nicht das!
    Nichts würde ihr schwerer fallen. Caroline berührte die Tasten. Streichelte sie. Machte sich wieder mit dem Gefühl des Elfenbeins und des Holzes vertraut. Musik war immer ihre Zuflucht gewesen, ihr Ort des Friedens. Es war ein Zeichen dafür, wie tief ihr Kummer saß, dass sie die Musik schon so lange gemieden hatte.
    Sie blickte verunsichert auf und ihm direkt in die Augen. Dunkel und ruhig und durchdringend, als ob er in ihren Kopf eindringen und all die schmerzlichen Gefühle lesen könnte, die dort durcheinanderwirbelten, einschließlich ihrer Panik und ihrer Angst. Vor ihr stand ein Mann, der Gewehrsalven getrotzt hatte. Wie könnte so jemand ihre Angst vor dieser Tastatur begreifen?
    Er konnte es nicht.
    Tu es jetzt !
    Caroline atmete tief ein und begann mit der rechten Hand stockend einige wenige Tasten anzuschlagen. Die Noten klangen disharmonisch, viel zu langsam, aber es war zu erkennen, um welches Lied es sich handelte.
    Die ersten Takte von »Think of Me« erklangen, der eindringlichen Melodie, die Christine für das Phantom sang. Dieses Lied hatte sich für alle Zeit in ihr Herz gebrannt, als eine Hymne an den Schmerz und den Verlust.
    Ihre Hand zauderte, und sie hielt das F eine ganze Weile mit dem Zeigefinger heruntergedrückt, während sie sich fragte, ob sie imstande war weiterzumachen.
    Sie hatte keine Wahl. Nicht nur aus Höflichkeit ihrem Untermieter gegenüber, sondern für sich selbst. Und für ihre geistige Gesundheit.
    Du musst das jetzt tun , befahl Caroline sich und setzte sich kerzengerade hin.
    Ihre rechte Hand wiederholte die ersten Takte, diesmal schneller, glatter, melodischer. Dann kam die Linke dazu, zögerlich, um den Kontrapunkt zu der mitreißenden Melodie zu setzen. Schließlich übernahm ihr motorisches Gedächtnis. Die Noten begannen zu fließen, während ihre Hände über die Tastatur flogen. Dieses Lied war ihr so vertraut wie ihr eigener Name.
    Think of me – Denk an mich

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