Gefährliches Geheimnis
Vorstellung und sich bewusst, dass die Ähnlichkeit zwischen ihnen sehr viel größer war als jeder Unterschied. »Wo haben Sie gewohnt? Wer waren Ihre Freunde? Wen soll ich aufsuchen und befragen?«
Zögerlich nannte Kristian ihm ein halbes Dutzend Namen und Adressen in drei verschiedenen Straßen, was ihn sichtlich Mühe kostete. In seiner Stimme war keine Hoffnung, keine Zuversicht.
»Sie war schön«, sagte er zärtlich. »Das sagen alle. Ich meine nicht ihr Gesicht …«
Er beschrieb ihr Gesicht als alltäglich, was Monk nicht fand. Vor seinem geistigen Auge sah er die betörende Schönheit der Frau auf Allardyces Leinwand. Ein Gesicht voller Leidenschaft und Träume, das den Betrachter einlud, alles zu wagen, sich das Unmögliche vorzustellen und es zu leben, es so sehr zu wollen, dass er ihr bis ans Ende der Welt folgen würde.
»Ich meine ihr Herz«, fuhr Kristian fort. »Ihr Lebenswille, ihr Mut, sich allem zu stellen. Sie entzündete das Feuer, das uns alle wärmte.«
Sprach da die Erinnerung oder Wunschdenken, oder die
Art von Gefühl, die die Erinnerung an Menschen, die
geliebt wurden und verloren sind, vergoldet? Oder war es Schuld, die versuchte, den Abgrund, der sich seither zwi- schen ihnen aufgetan hatte, zu überbrücken? Würde Monk in Wien auch die Wahrheit über Kristian herausfinden?
Er schrieb alles auf, was Kristian ihm sagte, und als sie sich verabschiedeten, hätte er gerne etwas gesagt, was ausdrückte, was er im Innersten wollte. Es war unmöglich. Enttäuschung! Er konnte seinen Wunsch zu glauben, dass Kristian unschuldig war, nicht in Worte fassen, nicht nur um seinetwillen, sondern auch um Callandras willen, weil sie Kristian liebte. Und Monk wusste, was es bedeutete, jemanden zu lieben.
Er wollte wegen Hester, dass Kristian unschuldig war, weil sie an ihn glaubte und sehr verletzt wäre, und wegen Pendreigh, weil er die Enttäuschung über seine Tochter nicht länger unterdrücken konnte, wenn es am Ende doch ein tragisches, häusliches Verbrechen war. Vielleicht auch wegen der Frau, die ihn von Allardyces Leinwand herab angeschaut und sicher etwas Besseres verdient hatte, als auf dem Fußboden eines Ateliers zu enden, getötet – ob durch einen Unfall oder mit Absicht – durch die Hand eines Mannes, den sie mit ihrem verrückten Zwang zerstört hatte, nachdem sie früher für Ideale gekämpft hatte, die unendlich viel zählten: Freiheit, Würde und das Recht Fremder, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
»Ich werde alles tun, was ich kann«, sagte er zu Kristian.
»Wir alle.«
Kristian nickte und wagte nicht zu sprechen.
10
Monk verließ London mit dem letzten Zug nach Dover, um am Morgen das erste Schiff nach Calais zu erwischen und von dort über Paris nach Wien weiterzufahren. Die Reise würde drei Tage und acht Stunden dauern, vorausgesetzt, alles lief glatt, er verirrte sich nicht, und es gab keine Verzögerungen oder mechanischen Defekte. Eine Fahrkarte zweiter Klasse kostete acht Pfund, fünf Schilling und sechs Pence.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte die Reise ihn fasziniert. Er wäre gefesselt gewesen von der Landschaft, den Städten, durch die er kam, der Architektur der Gebäude und der Kleidung und von dem Verhalten der Menschen. Seine Mitreisenden hätten ihn besonders interessiert, auch wenn er ihre Gespräche nicht verstand und nur das erahnen konnte, was Beobachtung und Menschenkenntnis ihm sagten. Aber er war in Gedanken zu sehr mit dem beschäftigt, was er in Wien herausfinden würde, und versuchte, Fragen zu formulieren, mit deren Hilfe er aus dem Nebel heroischer Erinnerungen ein paar Wahrheiten zu fischen hoffte.
Die Reise schien endlos zu dauern, und er verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Er war mit Fremden in einem gepolsterten Raum aus Eisen gefangen, der durch wechselndes graues Tageslicht und, wenn die Herbstabende hereinbrachen, tiefe Dunkelheit schwankte und ratterte. Manchmal war die Luft klar, manchmal schlug Regen gegen das Fenster und trübte den Blick auf Äcker, Dörfer und Wälder.
Er schlief nur sporadisch. Er fand es schwierig, da es keinen Platz zum Liegen gab, und nach der ersten Nacht
rebellierten seine Muskeln gegen die erzwungene Untätigkeit. Er konnte sich mit niemandem unterhalten, weil alle anderen Passagiere in seinem Wagen nur Französisch oder Deutsch zu verstehen schienen. Er tauschte ein freundliches Nicken und ein Lächeln aus, aber das unterbrach kaum die Monotonie.
Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe,
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