Gefährliches Geheimnis
gehört er auf die Bühne.«
Die Kälte der Leichenschauhalle zehrte an Monk, und der Geruch drehte ihm den Magen um. Er erinnerte sich an Männer, die – aus Wut, Eifersucht oder verletztem Stolz – jemanden umgebracht hatten und hinterher genauso entsetzt gewesen waren wie andere. Und eine so betörend schöne Frau wie Mrs. Beck konnte in Allardyce oder jemand anderem alle möglichen Leidenschaften geweckt haben, besonders in Kristian selbst.
»Genug gesehen?«, unterbrach Runcorn ihn in seinen
Gedanken.
»Kleider«, sagte Monk fast geistesabwesend. »Was hatten sie an?«
»Das Modell trug ein lockeres Kleid, eine Art Hemdkleid, nennt man das, glaube ich«, sagte Runcorn unbeholfen. Seine Verlegenheit und seine Verachtung für ihren Lebensstil und was er sich darunter vorstellte waren seiner Stimme deutlich anzuhören. Er kniff die Lippen zusammen, und eine leichte Röte überzog seine Wangen.
»Und Mrs. Beck trug ein ganz gewöhnliches Kleid, dunkel, mit hohem Ausschnitt und vorne geknöpft. Es passte ihr sehr gut, aber es war nicht neu.«
»Stiefel?«, fragte Monk neugierig.
»Natürlich! Sie war nicht barfuß unterwegs!« Dann begriff er. »Oh … Sie meinen, ob sie sie anhatte? Ja!«
»Ich wollte eigentlich wissen, ob sie alt waren oder neu?«, entgegnete Monk. »Ich gehe davon aus, dass Sie es erwähnt hätten, falls sie sie nicht angehabt hätte.«
Die Röte in Runcorns Gesicht vertiefte sich, aber dies- mal aus Gereiztheit. »Ältlich … warum? Verdient Beck keinen anständigen Lebensunterhalt? Ihr Vater ist Fuller Pendreigh. Sehr bedeutender Mann, hat Geld wie Heu.«
»Das heißt nicht, dass er seiner Tochter davon etwas abgegeben hat«, legte Monk dar, »jetzt, wo sie eine verheiratete Frau ist, seit … wissen Sie, wie lange?«
Runcorn zog die Augenbrauen hoch. »Wissen Sie das nicht?«
»Keine Ahnung«, gab Monk gereizt zu. Außer, dass sie länger verheiratet gewesen sein müssen, als er Callandra kannte, aber das würde er Runcorn nicht verraten.
»Ich nehme an, Sie wollen die Kleider sehen. Sie werden
Ihnen nicht viel verraten. Ich habe sie mir schon angesehen.« Runcorn bedeckte das weiße Gesicht und schlug die Ecken des Lakens ein, als ob es darauf noch ankäme. Dann führte er Monk mit hallenden Schritten in den kleinen Raum, in dem die Besitztümer der Toten aufbewahrt wurden. Sie waren eingeschlossen. Er musste einen Beamten bitten, ihm die Schublade aufzuschließen.
Monk griff nach Sarah Mackesons Hemdkleid. Es hing immer noch ihr leichter Duft darin, fast wie Wärme. Das Gefühl für ihre Realität überschwemmte ihn wie eine Welle, mächtiger noch als beim Anblick ihrer Leiche. Seine Hände zitterten, als er es weglegte. Es gab keine Unterwäsche. War sie so überzeugt gewesen von ihrer Schönheit, dass sie auf die Intimsphäre verzichtet hatte, die ihr konventionellere Kleidung gewährt hätte? Oder hatte sie Allardyce Modell gesessen und war, in Erwartung, dass sie anschließend weitermachen würden, rasch in diese Sachen geschlüpft, während er eine Pause machte? Warum hatte er nicht weitergemacht?
Oder war sie, entweder allein oder mit jemandem, bereits im Bett, als Mrs. Beck kam? Was das betraf, verbrachte sie die Nacht oft in Allardyces Atelier? Es gab viele Fragen über sie, die beantwortet werden mussten. Die wichtigste Frage, die mit jedem Augenblick drängender wurde, war allerdings: Hatte der Anschlag ihr gegolten und war Kristians Frau nur eine unwillkommene Zeugin gewesen, die auf die schrecklichste Weise zum Schweigen gebracht worden war?
»Gibt es wirklich keinen einzigen Hinweis darauf, wer zuerst umgebracht wurde?«, fragte er, legte die Kleider zurück und machte sich daran, den nächsten Karton durchzusehen, der Mrs. Becks Sachen enthielt. Es fiel ihm schwer, sie in Gedanken bei diesem Namen zu nennen, denn sie war so ganz anders, als er sich vorgestellt hatte,
doch er kannte keinen anderen Namen.
»Bislang nicht.« Runcorn beobachtete ihn, als sei jede seiner Bewegungen, jeder Schatten auf seinem Gesicht von Bedeutung. Er war verzweifelt. »Der Arzt kann mir überhaupt nichts sagen, aber von dem Mieter in der Etage unten drunter wissen wir, dass er gegen halb zehn Frauenstimmen hörte.«
»Wahrscheinlich als Mrs. Beck kam«, bemerkte Monk.
»Oder ihr Mörder. Zumindest hat eine von beiden zu dem
Zeitpunkt noch gelebt.«
»Wahrscheinlich«, meinte Runcorn. »Vielleicht kriegen Sie noch was aus dem Mann raus, wenn Sie sich mit ihm
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