Gefährliches Geheimnis
Fassung geraten, weil er das Gefühl hatte, Sarah verteidigen zu
müssen, und unerwartet Mitleid mit ihr hatte, was ihn zutiefst verwirrte. Er verteidigte nicht sie, sondern seine eigene Nacktheit vor Monk, von dem er annahm, er könnte sein Verständnis und seinen Schmerz nicht teilen.
Die Tatsache, dass er beides durchaus teilte, machte auch Monk wütend. Er bewunderte Runcorn. Es erforderte Mut, Offenheit für Verletzungen und Veränderungen, deren er ihn nicht für fähig gehalten hatte. Das hieß, dass auch Monk seine Ansichten ändern musste, über Runcorn und über alle Menschen.
Er war sich bewusst, dass Runcorn ihn jetzt anschaute.
»Opium?«, sagte er und mühte sich, Interesse in seine
Stimme zu legen.
»Irgendeine Ahnung, woher sie es bekam?«
Runcorn grunzte. »Könnte Allardyce gewesen sein«, sagte er unverbindlich. »Das könnte der Kern der ganzen Geschichte sein – der Verkauf von Opium ist schief gegangen. Vielleicht stieß Mrs. Beck zufällig dazu, und sie fürchteten, es würde einen Skandal geben.«
»Der es lohnt, sie umzubringen?«, fragte Monk zweifelnd. Opium zu verkaufen war kein Verbrechen.
»Könnte um ’ne Menge Geld gegangen sein«, argumentierte Runcorn. »Oder es waren noch mehr Menschen darin verwickelt. Weiß nicht, wen Allardyce noch gemalt hat, vielleicht Damen aus der Gesellschaft. Vielleicht haben sie das Zeug genommen und wollten nicht, dass ihre Männer es erfahren?«
Das war möglich, in der Tat, und je länger Monk darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher klang es. Es würde bedeuten, dass das Motiv für die Morde nichts mit Kristian oder Elissa Beck zu tun hatte. »Vielleicht ein Streit oder eine kleine Erpressung?«, fügte er hinzu. »Allardyce war der Lieferant?«
Runcorn sah ihn an, und in seinem Blick lag fast so etwas wie Anerkennung. »Also, er hat es wahrscheinlich Sarah Mackeson gegeben, um sie gefügig zu halten, wenn nicht mehr – das arme Geschöpf. Es war ihm egal, was es im Laufe der Zeit mit ihr anrichtete. Er interessiert sich nur dafür, wie sie jetzt aussieht, nicht dafür, was mit ihr passiert, wenn er ihrer überdrüssig wird und sich eine andere sucht.« Sein Mund schloss sich zu einem bitteren Strich, als wäre er nicht nur auf Allardyce wütend, sondern auf jeden, der nicht das sah, was er sah, oder gleichgültig war.
Monk sagte nichts. Ihm gingen viel zu viele Möglichkeiten gleichzeitig im Kopf herum. Seine Wut auf Runcorn löste sich in Luft auf, und dann stieg neue Wut in ihm auf, denn er wollte seine Meinung über Runcorn nicht ändern müssen, besonders nicht so schnell und so gewaltsam. Es war sein Fehler, voreilig eine grausame Schlussfolgerung zu ziehen, bevor er die Wahrheit kannte, aber er machte Runcorn immer noch Vorwürfe, dass er nicht derjenige war, für den er ihn gehalten hatte. Gleichzeitig wusste er, dass das ungerecht war, was es umso schlimmer machte.
Runcorn blätterte in den Unterlagen auf seinem Tisch und fand, was er gesucht hatte. Er hielt es Monk hin. »Das ist die Zeichnung, von der Allardyce gesprochen hat. Der Typ, der sie gemalt hat, meinte, es sei die Nacht gewesen, in der die Morde geschahen, und der Wirt sagte, es stimme, dass er dort war und Leute gezeichnet hat.«
Monk nahm die Skizze. Er brauchte nur einen raschen Blick darauf zu werfen, um zu sehen, dass es unver- kennbar ein Porträt von Allardyce war. Es besaß nicht Allardyce’ Geschick, die Leidenschaft des Augenblicks einzufangen. Es war keine Spannung darin, keine Dramatik. Es war nur eine Gruppe von Freunden, die in
einer Schänke um einen Tisch saßen, aber die Atmosphäre war eindringlich. Selbst in einer solch hastigen Skizze konnte man sich das Lachen, das Summen der Gespräche, das Klirren der Gläser, die Musik im Hintergrund und ein Theaterplakat an der Wand hinter ihnen vorstellen.
»Sie waren den ganzen Abend dort«, erklärte Runcorn kategorisch. »Allardyce können wir vergessen.«
Monk sagte nichts. Das hässliche, würgende Elend in seinem Innern schnürte ihm die Kehle zu.
6
Hester fuhr noch einmal ins Krankenhaus, um Mary Ellsworth zu besuchen. Sie saß im Bett, ihre Wunde heilte gut, und sie hatte eindeutig weniger Schmerzen als am Vortag.
»Ich werde wieder gesund!«, sagte sie in dem Moment, in dem Hester durch die Tür trat. »Nicht wahr?« Ihr Blick war ängstlich, und sie hielt die Bettdecke so fest, dass ihre Hände zu Fäusten geballt waren. Ihr Haar hatte sich aus den Zöpfen gelöst, die sie für die
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