Gefährliches Geheimnis
Nacht geflochten hatte, als hätte sie schon wieder angefangen, daran zu ziehen.
Hester wurde bang ums Herz. Was konnte sie zu dieser Frau sagen, was ihre eigentliche Krankheit heilen konnte? Der Bezoar war ein Symptom, nicht die Krankheitsursache.
»Sie erholen sich sehr gut«, antwortete sie. Sie legte ihre
Hand auf Marys Hand, die so starr war, wie sie aussah.
»Und ich … ich darf nach Hause?«, fragte Mary und sah Hester aufmerksam an. »Wird Dr. Beck mir sagen, was ich tun muss? Ich meine … er ist Arzt, er weiß das besser als jeder andere, nicht wahr?« Eine Aufforderung, fast eine Bitte.
Kristian konnte ihr sagen, sie sollte aufhören, ihre Haare zu essen, aber das meinte sie nicht. Sie suchte nach einer anderen Art von Vorschrift oder Versicherung.
»Natürlich wird er das, aber ich denke, das meiste wissen Sie selbst«, antwortete Hester.
Ein seltsamer Ausdruck trat in Marys Augen, Hoffnung, Schrecken und eine Art verzweifelter Zorn, als würde ihr erneut etwas bewusst, was ungeheuer ungerecht war.
»Nein, das weiß ich nicht! Und Mama weiß es auch nicht!
Sie weiß es nicht!«
»Würde es etwas nützen, wenn wir es ihr sagen?«, meinte Hester.
Jetzt hatte Mary eindeutig Angst. Sie schien vor einem Dilemma zu stehen, das zu lösen sie nicht genug Mut hatte.
»Kümmert sich Ihre Mutter nicht gut?«, fragte Hester freundlich. Sie wusste, dass Marys Vater Landpfarrer ge- wesen war, der jüngere Sohn einer wohlhabenden Familie.
»Sie macht alles gut!«, behauptete Mary wütend und zog die Bettdecke noch enger an die Brust. »Sie weiß immer, was man tun muss!« Sie stieß es hervor wie einen Vorwurf. Groll und Angst loderten in ihren Augen. Dann wandte sie den Blick ab.
»Verstehe.« Hester glaubte, zumindest einen Funken zu begreifen. »Also, das muss nicht jetzt entschieden werden«, sagte sie entschlossen. »Aber ich bin mir sicher, Dr. Beck wird sich glücklich schätzen, Ihnen zu sagen, was Sie tun müssen, und ich auch. Fühlen Sie sich damit besser?«
Marys Hände entspannten sich ein wenig. »Schreiben
Sie es für mich auf, falls …«
»Natürlich. Sie brauchen etwas, auf das Sie sich berufen können«, meinte Hester. »Und Sie können üben, bevor Sie nach Hause gehen.«
»Üben?«
»Üben, um sicher zu sein, was richtig ist.«
»Oh! Ja. Danke.«
Hester blieb noch ein paar Minuten, dann ging sie
Kristian suchen.
Später kam sie im Korridor an Fermin Thorpe vorbei, der wie immer unzufrieden aussah und so tat, als sehe er sie nicht, weil er sich in ihrer Gegenwart unbehaglich
fühlte. Er verlor schnell die Geduld mit ihr, und er mochte es ganz und gar nicht, wenn er etwas nicht unter Kontrolle hatte, vor allem nicht sein eigenes Verhalten. Er hatte ein hochrotes Gesicht und ein Glitzern in den Augen, als hätte seine letzte Begegnung ihm missfallen.
Sie sah Callandra in der Apotheke. In dem Moment, in dem sie Hester bemerkte, beendete sie ihre Besprechung und kam heraus.
»Haben Sie irgendetwas gehört?«, fragte sie, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. »Was hat William herausgefunden?«
Hester hatte Callandra seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Sie hatte wach gelegen und mit sich gerungen, ob sie Callandra von Elissas Spielsucht erzählen sollte oder nicht, und als ihr klar wurde, dass sie es musste, quälte sie sich damit, wie sie es ihr sagen sollte, ohne Kristians Privatsphäre zu verletzen und ohne Callandra von seinem Kummer zu erzählen.
Innerlich fröstelte sie jedoch vor Angst, dass es unmöglich war, Kristian zu schützen. Callandra würde es eines Tages erfahren müssen. Es wäre leichter für sie, wenn Kristian es ihr erzählte, sobald er es für richtig hielt und aus freien Stücken. Im schlimmsten Fall ging es für ihn ums Überleben, und alles Wissen musste geschützt werden, damit niemand es unwillentlich verriet.
»Was?«, fragte Callandra leise.
»Elissa Beck hat gespielt«, antwortete Hester. Sie sah das Unverständnis in Callandras Miene, und fuhr fort: »Zwang- haft. Sie hat alles, was sie besaß, verloren, sodass Kristian all ihre Besitztümer verkaufen musste, sogar die Möbel.«
Callandra wirkte, als dringe die Bedeutung dessen, was sie gehört hatte, nur langsam in ihr Bewusstsein, wie bei einer sehr komplizierten Geschichte.
»Es ist eine Sucht«, fuhr Hester fort. »Wie Trinken oder Opium nehmen. Einige Menschen können nicht aufhören, egal, was sie sich damit antun, selbst wenn sie ihr Geld verlieren, ihren Schmuck, Bilder,
Weitere Kostenlose Bücher