Gefährliches Geheimnis
Road. In Gedanken war er schon wieder mit Kristians Wegen am Abend der Morde beschäftigt. Er ging zu den Patientinnen, die dieser besucht hatte, und bat sie noch einmal, ihm so genau wie möglich die Uhrzeit zu nennen. Die Antworten waren unbefriedigend. Die Erinnerungen waren durch Schmerzen und das Durcheinander der Tage verschwommen, die in einem ewigen Kreislauf von Medikamenten, Mahlzeiten, Nickerchen und gelegentlichen Besuchen ineinander flossen. Zeit bedeutete sehr wenig. Es spielte wirklich keine Rolle, ob der Arzt um acht oder um neun kam, am Montag oder Dienstag dieser Woche, oder war es letzte Woche?
Monk war sich nicht sicher, ob Kristian beweisen konnte, dass er zur Zeit der Morde woanders gewesen war. Er fürchtete immer mehr, dass ihm dies nicht gelingen würde.
Was Hester ihm über Elissas Spielsucht erzählt hatte, erfüllte seinen Kopf mit hässlichen Gedanken. Er konnte sich allzu leicht vorstellen, dass die Angst vor dem Ruin sich so hochschraubte, dass sie eines Tages außer Kontrolle geriet, so dass die Selbstdisziplin zerriss und die
Gewalt durchbrach. Es war geschehen, bevor Kristian Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, was er tat. Dann war er mit Sarah Mackeson konfrontiert worden – betrunken, verängstigt, vielleicht hysterisch und im Begriff zu schreien. Er hatte sie aus reiner Selbsterhaltung zum Schweigen gebracht, womöglich half ihm dabei seine alte Geschicklichkeit im Kampf aus den Tagen der Revolution in Wien, wo der Anlass erhaben gewesen war und Krieg und Tod sich mit der Hoffnung vermischt hatten und dann mit der Verzweiflung.
Veränderten solche Ereignisse einen Menschen und die Art und Weise, wie er auf Bedrohungen reagierte, und den Wert, den er dem Leben zumaß?
Monk ging jetzt langsamer und wandte sich nach Süden Richtung Gray’s Inn Road. Er kam an einem elegant ge- kleideten, breit grinsenden Pfefferkuchenverkäufer vorbei.
»Hier gibt’s leckere Pfefferkuchen, fein gewürzten Pfefferkuchen!«, rief er. »Zergeht Ihnen im Mund wie ein rot glühender Ziegelbrocken und rumpelt in Ihrem Bauch wie Punch in einer Schubkarre!« Er grinste Monk an. »Sie haben noch nie Toddy Diddy Doll gehört?«
Monk erwiderte sein Lächeln. »Doch. Ein bisschen vor
Ihrer Zeit, nicht wahr?«
»Hundert Jahre!«, meinte der Mann. »Der beste Pfeffer- kuchenverkäufer in ganz England, das war er. Warum soll ich ihn nicht nachmachen? Sehr wohltuend – tun Ihnen gut, wenn Sie sie essen. Hier, drei Pence. Halten Ihnen die Kälte vom Leib.«
Monk reichte ihm ein Dreipencestück und nahm den großzügig bemessenen Lebkuchen. »Vielen Dank. Sind Sie abends oft hier?«
»Klar. Sie können jederzeit vorbeikommen. Sie finden in ganz London keinen besseren«, versicherte der Mann ihm.
»Kennen Sie Dr. Beck, einen Österreicher, der hier in der Gegend Patienten besucht? Er ist ein paar Zentimenter kleiner als ich, hat dunkles Haar und auffällig dunkle Augen. Wahrscheinlich immer in Eile.«
»Ja, ich weiß, wen Sie meinen. Fremder. Zu jeder Stunde unterwegs. Ein Freund von Ihnen?«
»Ja. Können Sie sich erinnern, wann Sie ihn das letzte
Mal gesehen haben?«
»Haben ihn wohl verloren, was?« Der Mann grinste erneut.
Monk hatte Mühe, nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. »Es war seine Frau, die in der Acton Street ermordet wurde. Wann haben Sie ihn gesehen?«
Der Pfefferkuchenverkäufer pfiff durch die Zähne, die gute Laune erstarb auf seinem Gesicht. »Das war in der betreffenden Nacht, gegen zehn Uhr. Kaufte ein Stück Pfefferkuchen und nahm eine Droschke nach Norden. Schätze, er fuhr nach Hause. Ich bin jedenfalls kurz danach nach Hause. Er war mein letzter Kunde.«
»Wie war er?«
»Zum Umfallen müde, wenn Sie mich fragen. So müde, dass er sich kaum aufrecht halten konnte. Schreckliche Sache, seine Frau auf diese Art zu verlieren.« Er schüttelte den Kopf und seufzte.
Monk dankte ihm und ging weiter. Er war sich nicht sicher, ob das, was der Mann ihm erzählt hatte, gut oder schlecht war. Es entsprach in etwa dem, was Kristian ihm gesagt hatte, aber es hieß auch, dass dieser nur wenige hundert Meter von der Acton Street entfernt gewesen war.
Vielleicht sollte er, statt Kristian zu folgen, versuchen, mehr über Elissa herauszufinden? Zum Zeitpunkt der Morde war sie offensichtlich in Allardyces Atelier gewesen,
aber wo war sie vorher? Runcorn und er waren bisher davon ausgegangen, dass sie von zu Hause aus direkt zu Allardyces Atelier gegangen war. Vielleicht
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