Gefährliches Geheimnis
dessen
sie sich aber nicht bewusst war, weil er in ihrer Herzlich- keit und Einfachheit lag. »Ich bitte Sie um Verzeihung, dass ich Sie besuche, ohne vorher zu schreiben, aber manchmal überschlagen sich die Ereignisse, so dass für Höflichkeiten keine Zeit bleibt, und ich gestehe, dass ich zutiefst beunruhigt bin.«
Einen ganz kurzen Augenblick fragte er sich, warum, dann stand ihm das Wissen darum deutlich in den Augen geschrieben. Er trat näher. Seine Miene wurde ein wenig weicher, aber es kostete ihn offensichtlich einige Willensanstrengung. »Natürlich. Es wäre absurd, in einer solchen Zeit die Konventionen einzuhalten. Möchten Sie hier mit mir sprechen oder lieber im Salon? Haben Sie schon Tee getrunken?«
»Noch nicht«, erwiderte sie. Sie scherte sich nicht darum, ob sie schon Tee getrunken hatte oder nicht, aber er war vielleicht müde und durstig und würde sich wohler fühlen, wenn er gastfreundlich sein konnte. Man konnte die Hände beschäftigen, hatte Zeit, über eine Antwort auf eine unerwartete oder schwierige Frage nachzudenken, und eine Entschuldigung, den Blick abzuwenden, ohne unhöflich zu sein. »Das wäre sehr liebenswürdig, vielen Dank.«
Erleichterung leuchtete in seinem Gesicht auf, und er führte sie durch die Halle in den Salon. Dann wies er das Mädchen an, ihnen Tee zu bringen.
Der Raum ging nach Süden hinaus und hatte hohe Fenster, was bedeutete, dass die ungewöhnlich vielen blauen Stoffe und Möbel ihn nicht kalt erscheinen ließen, sondern ihm eine Tiefe und eine Aura der Ruhe gaben, die wärmere Farbtöne nie erreicht hätten.
Er sah ihre Bewunderung und lächelte, ohne jedoch eine
Bemerkung darüber zu machen.
Sie wollte das Gespräch über Elissa nicht eröffnen,
bevor das Mädchen den Tee gebracht hatte und wieder gegangen war. Bis dahin würde sie über etwas von gemeinsamem Interesse, aber ohne Emotionen sprechen. Sie blieb stehen und betrachtete die geschmackvollen Porträts an den Wänden. Besonders eines erregte ihre Aufmerksamkeit. Es zeigte eine Frau mit einem hübschen Gesicht und prächtigem Haar von der Farbe von warmem, trockenem Sand, blasser noch als Weizen. Der Stil ihres Kleids war vor etwa zwanzig Jahren modern gewesen, und sie sah aus, als sei sie Mitte oder Ende dreißig. Die Ähnlichkeit war so ausgeprägt, dass Callandra annahm, es sei Pendreighs Schwester oder eine Cousine.
»Meine Schwester Amelie«, sagte er leise ein paar Schritte hinter ihr. In seiner Stimme lag ein Kummer, der ihr nicht verborgen bleiben konnte. Callandra wusste nicht, ob er ihn zu verbergen versucht hatte, oder ob es ihm recht war, wenn sie ihn hörte, weil die Wunde noch schmerzte und es ihn tröstete, den Kummer zu teilen.
»Sie hat ein bemerkenswertes Gesicht«, sagte sie aufrichtig. »Mehr als hübsch.«
»Das war sie«, antwortete er. »Sie besaß außerordent- lichen Mut und …« Er unterbrach sich einen Augenblick, wie um sich zu fassen. »… geistigen Edelmut.«
Der Gebrauch der Vergangenheitsform und die Gefühle in seiner Stimme erforderten es, das Thema weiter zu verfolgen, aber mit dem größten Zartgefühl. »Sie sieht kaum älter aus als fünfunddreißig«, sagte Callandra und überließ es ihm, weiter auf das Thema einzugehen oder sich etwas anderem zuzuwenden, zum Beispiel dem nächsten Bild.
»Achtunddreißig«, antwortete er. »Es wurde ein Jahr vor ihrem Tod gemalt.«
»Das tut mir sehr Leid.« Es wäre taktlos zu fragen, was
passiert war. Es konnte irgendeine Krankheit gewesen sein oder auch ein Unfall.
»Armut!« Seine Stimme war so hart, und das Wort klang so verzerrt, dass Callandra sich einen Augenblick nicht sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie drehte sich zu ihm um, und der Schmerz und die Wut in seiner Miene verblüfften sie. Sie waren so frisch, als wäre es eben erst passiert, obwohl sie seit einem Vierteljahr- hundert tot sein musste.
»Sie glauben, das kann ich nicht meinen, nicht wahr?«, fragte er und wies mit einer heftigen Geste durch den Raum, der ganz offensichtlich der eines wohlhabenden Mannes war. »Meine Familie hatte Geld. Mein Vater starb recht jung, und er war Amelia und mir gegenüber sehr großzügig. Als sie heiratete, war sie eine reiche Erbin.« Die Schlussfolgerung, die daraus zu ziehen war, überließ er ihr, während die Herausforderung in seinen Augen blitzte.
Wenn sie heiratete, gehörte natürlich alles, was sie besaß, automatisch ihrem Mann. So war das Gesetz, jeder wusste das. Nur
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