Gefährliches Spiel
gegen die Kälte. Er war bis auf die Knochen durchgefroren und das nicht nur wegen des Wetters.
Als er hinter dem Steuer saß, startete Nick den Wagen und lenkte ihn auf die Straße, die zur Autobahn führte, wo er schon gestern gewesen war. Er bremste und wartete mit laufendem Motor.
Wenn er nach links fuhr, wäre er auf dem Rückweg nach D.C., wo ihn schon jetzt jede Menge Ärger erwartete, weil er immer noch nicht aufgetaucht war. Nach rechts ging es zurück nach Parker’s Ridge. Es wäre natürlich vollkommen verrückt, wieder nach Parker’s Ridge zu fahren. Wenn ihn irgendjemand erkannte, hätte er den Auftrag endgültig versaut. Das wäre der Super-GAU.
Nick saß im Auto und beobachtete im Rückspiegel, wie die Abgase des Wagens wie Rauch in die Luft stiegen. Selbst diese wenigen Minuten noch zu verschwenden war kriminell. Seine Karriere konnte er vergessen.
Scheiß drauf.
Er trat aufs Gas und fuhr nach rechts, direkt nach Parker’s Ridge.
19
Parker’s Ridge
29. November
Charity hob den Kopf, als sie hörte, wie ein Auto die Straße vor ihrem Haus entlangfuhr. Die plötzliche Bewegung verursachte ihr Übelkeit. Sie schluckte Galle. Sie wusste, dass Galle auch das Einzige war, das jetzt noch hochkommen konnte. Das wenige, was sie hatte herunterwürgen können – ein halbes Dutzend Kekse, ein Glas Milch, ein halber Pfirsich –, war sofort auf demselben Weg wieder herausgekommen.
Dass sie nicht essen konnte, überraschte sie nicht. Sie konnte kaum atmen. Schlaf war ein fast vergessenes Konzept, was auch besser war. Denn wenn es ihr tatsächlich gelang einzuschlafen, schreckte sie sofort schweißgebadet wieder hoch. Ihre Träume bestanden nur noch aus Bildern von lodernden Autos, die von Bergen herabstürzten, von Explosionen und verbrannten Knochen. Ihre Albträume waren unglaublich lebensecht, bis hin zu dem Geruch, der vermutlich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt sein würde.
Charity hatte darauf bestanden, zum Büro des Leichenbeschauers zu gehen, um Nick zu identifizieren. Der Sheriff und der Leichenbeschauer hatten ihr beide gesagt, dass eine visuelle Identifikation unmöglich sei, sie also den Körper auch nicht ansehen müsse. Was vom Körper noch übrig war.
Aber irgendetwas, irgendeine Prewitt-Auffassung von Ehre, hatte sie darauf bestehen lassen, entgegen den Wünschen des Sheriffs und des Leichenbeschauers die Überreste anzusehen. Ein Teil von ihr wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie auf sie gehört hätte. Nicks verkohlte Überreste waren genug gewesen, um selbst den Leichenbeschauer das Gesicht verziehen zu lassen.
Was da auf dem Autopsietisch vor ihr lag, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Es war einfach nur eine Ansammlung geschwärzter Knochen – einige davon bis aufs Mark aufgebrochen –, die in der grausigen Annäherung an menschliche Umrisse arrangiert worden waren.
Der schwarze Schädel ganz oben, das Fleisch verbrannt, sodass Nicks Mund in einem makabren Grinsen seine perfekten Zähne entblößte. Der Leichenbeschauer hatte die Knochen alle in die anatomisch korrekte Position gelegt, bis auf den rechten Oberschenkelknochen, der nicht gefunden worden war. Er hinterließ einen leeren Platz in der rußigen Skizze dessen, was einst ein menschliches Wesen gewesen war.
Der Sheriff hielt Charity fest am Ellenbogen, falls sie ohnmächtig werden sollte.
Doch Prewitts waren aus härterem Holz geschnitzt. Sie wurde nicht ohnmächtig und sie brach auch nicht zusammen. Was auch immer sie fühlte, war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Als sie auf Nicks Überreste hinabsah, konnte sie ihr eigenes Gesicht fühlen, steif und ausdruckslos.
Sie war einen Schritt nach vorne gegangen, hatte sich von der Hand des Sheriffs losgemacht und war an den Tisch getreten.
Der Sheriff hatte ihr gesagt, dass es wirklich nicht nötig sei, die Leiche anzusehen, aber es war nötig.
Sie musste Nicks Leben bezeugen und dafür sorgen, dass er es unter einem liebenden Blick verließ. Sie war seine Familie. Genau wie sie hatte er keine Eltern und keine Geschwister. Sie waren zuletzt die Familie füreinander gewesen, und dies war das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte.
Das Schicksal hatte verhindert, dass sie das Gleiche für ihre Eltern hatte tun können. Sie hatte sie nach der Nacht des Feuers nie wiedergesehen, nicht ihre Körper, nicht ihre Särge. Sie war nicht auf ihrer Beerdigung gewesen. Als sie aus dem Koma erwachte, hatte man ihre Eltern
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