Gefaehrten der Finsternis
im Grunde genommen tut er mir leid.«
»Was? Er tut dir leid?« Lyannen starrte Tyke ungläubig an. »Wie meinst du das? Er hat deinen Vater und deinen Bruder umbringen lassen! Er hat das Bündnis verraten! Er hat versucht, dich zu töten! Wie kann er dir leidtun?«
»Er ist immer noch mein Bruder«, entgegnete Tyke. Seine grauen Augen funkelten. »Lucidious denkt, er wäre so groß und mächtig, und er vergisst darüber ganz, dass es jemanden gibt, der noch viel größer und mächtiger ist als er. Er wird eine herbe Enttäuschung erleben, wenn er herausfindet, dass sein Bündnispartner ihn nur an der Nase herumgeführt hat.«
»An der Nase herumgeführt?« Erneut wiederholte Lyannen verständnislos Tykes Bemerkung. »Wie das denn?«
»Lyannen, ich habe für ihn gekämpft. Ich habe genug über ihn gehört, um mir ein Bild von ihm machen zu können«, sagte Tyke und seufzte kopfschüttelnd auf. »So jemand wie der teilt gar nichts, schon gar nicht die Macht.«
Wieder schwiegen sie einen Moment gemeinsam. Inzwischen war es fast Mittag und allmählich leerte sich das Bad. Lyannen musste lächeln, als er hörte, wie sich ein Grüppchen von Soldaten aus Syrkun beim Vorübergehen beschwerte, dass ausgerechnet sie während der Mittagspause zum Dienst eingeteilt waren. Und dann fragte er sich, ob es wohl Pflicht war, sich hellblau-silberne Handtücher mit dem aufgestickten Wappen der Festung um die Hüften zu schlingen. Er wollte schon Tyke danach fragen, doch der war auf einmal wie erstarrt. Lyannen drehte sich um, um in dieselbe Richtung wie Tyke zu schauen, und einen Augenblick später hatte er den Grund für die Verblüffung seines neuen Freundes ausgemacht.
Hinter dem geblümten Vorhang waren fröhlich schnatternd vier oder fünf junge Frauen hervorgekommen. Sie waren alle wunderschön, und obwohl sie mit Handtüchern hinreichend bedeckt waren, bekam Lyannen sofort einen puterroten Kopf, als eine der jungen Ewigen zu ihm herüberschaute und kicherte. Er war sich vollkommen sicher, dass die Frauen über ihn lachten. Er schaute schnell wieder zu Tyke hinüber und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Und da sah er, dass Tyke gar nicht die Mädchengruppe anstarrte, sondern ein anderes weibliches Wesen, das hinter ihnen her kam - ein kleines, zierliches mit langen braunen Locken mit einem Kupferstich.
Es war Irdris. Sie hatte sich ein scharlachrotes Handtuch wie einen Rock um die Hüften geschlungen, lief aber mit der Ungezwungenheit einer Amazone mit bloßem Oberkörper herum. Es war auch nicht weiter verwunderlich, dass Tyke sie anstarrte,
denn sie war eine äußerst hübsche Frau. Und sie war ebenfalls eine Sterbliche und daher für den jungen Mirnar eher erreichbar als die Ewigen.
Tyke schienen dieselben Gedanken durch den Kopf zu gehen, denn er stupste Lyannen mit dem Ellenbogen an und raunte ihm zu: »Hast du die da schon mal gesehen, das Mädchen da drüben?«
»Na, klar doch!«, rief Lyannen. »Sie heißt Irdris und ist eine Amazone. Sie ist mit uns hierhergekommen. Ich habe dir doch von ihr erzählt, oder? Irdris hat uns zur Flucht verholfen.«
»Sie ist wunderschön«, sagte Tyke mit rauer Stimme und starrte weiter zu der jungen Amazone herüber. Er wirkte dabei längst nicht so verlegen wie Lyannen.
»Wenn du willst, stelle ich dich vor«, bot Lyannen an, obwohl er es in Wirklichkeit niemals gewagt hätte, sich Irdris zu nähern, solange sie nicht vollständig bekleidet war.Aber wie er es sich gedacht hatte, schüttelte Tyke den Kopf. Also ist ihm das auch peinlich, dachte Lyannen erleichtert. Denn Tyke schaute schnell weg, als Irdris zu ihnen herüberblickte, die den jungen Mann neben Lyannen offensichtlich auch ganz gern kennengelernt hätte.
»Nein, vielen Dank«, murmelte Tyke. »Aber ein anderes Mal gerne. Hör mal, was hältst du davon, bei mir in meinem Quartier etwas zu essen? Weißt du, ein Sterblicher fühlt sich unter so vielen Ewigen einfach unwohl, daher habe ich den Statthalter gebeten, dass man mir mein Essen auf meinen Zimmern serviert. Ich könnte ja auch etwas für dich hinaufbringen lassen - und dann reden wir einfach weiter.«
Aus Höflichkeit hätte Lyannen so eine Einladung eigentlich dreimal ablehnen müssen. Doch auch er hatte schon selbst mit Schrecken daran gedacht, dass er gleich mit einer Hundertschaft von Ewigen in einem Speisesaal sitzen sollte. Mit Hundertschaften, die sich alle über seine Haare und Figur lustig machen könnten. Tyke bot ihm eine wunderbare
Weitere Kostenlose Bücher