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Gefaehrten der Finsternis

Titel: Gefaehrten der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chiara Strazzulla
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eine schreckliche Gestalt. Zunächst schien sie nur aus blässlichem Rauch zu bestehen, doch dann nahm sie feste Formen an. Sie war mindestens zehn Meter hoch und in ein Tuch aus schwarzer Finsternis gehüllt, das sich im Wind bauschte. In ihrem dunklen geisterhaften Gesicht leuchteten flammenrote Augen und ein grausames Lächeln lag auf ihren Lippen. Auf ihrer Stirn strahlte ein auf dem Kopf stehender Stern. Die Haare waren eine einzige schwarze Wolke und verschmolzen untrennbar mit dem Schattenumhang.
    »Ich bin hier, damit du für alles bezahlst«, sagte Lyannen. Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. »Ich will die Rache, auf die ich ein Anrecht habe.« Er erhob herausfordernd sein Schwert, doch das tat er wie von selbst.
    Das Schattenwesen lachte nur und dieses Lachen zerriss die Luft und ließ Lyannen das Blut in den Adern gefrieren. »Wahnsinniger!«, rief es aus. Seine Stimme schien sich aus drei oder vier verschiedenen Tonlagen zusammenzusetzen, die einander überlagerten. »Du willst dich mit mir messen, erbärmlicher Halbsterblicher? Aber begreifst du denn nicht, dass du gemessen an mir weniger als eine Fliege bist? Ich kann dich mit einem Handstreich fortwischen!« Dann lachte das Wesen wieder grell auf. »Was bist
du denn? Nur ein erbärmliches Geschöpf dieser Erde! Aber ich, ich bin nicht von dieser Welt! Ich bin die Finsternis!«
    Lyannen war zutiefst erschüttert, aber er zeigte es nicht. »Es ist mir egal, wer du bist!«, schrie er. »Kämpfe, wenn du den Mut dazu hast!«
    Die schreckliche Gestalt lachte zum dritten Mal auf und ihre Augen funkelten böse. Unter ihrem schwarzen Umhang kam eine skelettartige Hand hervor. »So stirb«, zischelte die Finsternis.
    Dann bohrte sich ein stechender Schmerz in Lyannens Brust, der mit einem Aufschrei in die Knie ging. Das Schwert entglitt seinen sich verkrampfenden Fingern. Wellen des Schmerzes durchzuckten seinen Körper. Es war schlimmer als die grausamste Folter. Er legte eine Hand auf die Brust, und als er sie wieder wegzog, bemerkte er zu seinem Erschrecken, dass sie blutverschmiert war.
    »Nein!«, schrie er. Er wandte sich an die Finsternis im Himmel, auf der Erde oder an irgendjemand, der ihn hören konnte. Doch das war das Ende. Keiner hörte ihn. Keiner konnte ihn retten. Mit letzter Kraft suchten seine Finger in den Falten seines Gewandes nach dem Sternenanhänger.
    Doch ehe er ihn umklammern konnte, blitzte ein helles Licht hinter ihm auf. Die Finsternis wich zurück. Und Lyannen sah im hellen Schein der Flammen die Gestalt eines Mannes, der ebenso gut ein Gott sein konnte. Der Mann hatte eine Hand hoch erhoben. Da stieg ein wilder Aufschrei aus seiner Brust und der Mann löste sich in einer Rauchwolke auf.
    Der Gott oder was auch immer diese leuchtende Erscheinung war, beugte sich zu Lyannen hinunter und reichte ihm eine Hand. Der Schmerz war vergangen. Lyannen schaute zu ihm auf.
    Lächelnd half ihm Slyman hoch.
     
    Lyannen wurde vom lauten Klang einer Trompete geweckt. Er drang klar durch die Luft und daraufhin öffnete er die Augen. Er
hatte eine äußerst lebhaften Traum gehabt. Noch ganz benommen davon schüttelte er den Kopf, um wieder etwas klarer denken zu können, und erhob sich dann vom Bett. Die Trompete tönte weiter. Vielleicht war es ja ein Weckruf. Er suchte nach seinen Stiefeln und schlüpfte hinein. Die ganze Festung erdröhnte von diesem kristallklaren Klang. In den Fluren hörte man aufgeregte Stimmen.
    Lyannen schrak zusammen. Und wenn der Feind gekommen war? Die Festung vielleicht bereits umzingelt hatte? Was machte er dann noch hier in seinem Zimmer?
    Die Trompete hatte nun aufgehört, doch die Stimmen drau-ßen vor der Tür hatten sich noch nicht beruhigt. Lyannen wartete still und lauschte auf seinen lauten Herzschlag. Er war immer noch ganz verwirrt von seinem Traum. Er hätte besser gar nicht geschlafen.
    In diesem Moment klopfte es an der Tür. Atemlos eilte Lyannen hin, um zu öffnen. Draußen stand ein junger Mann mit einem scharlachroten Stirnband. Ein goldener Haarschopf verdeckte sein halbes Gesicht, und er trug die Uniform des Geflügelten Sturms, die allerdings etwas zerknittert aussah. »Na ja, dir scheint es gut zu gehen«, sagte er.
    »Gershir!«, rief Lyannen begeistert aus. »Ich freue mich, dich wiederzusehen. Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«
    »Unterwegs in streng geheimer Mission des Geflügelten Sturms«, erwiderte Gershir und schien zum ersten Mal stolz auf seine Uniform zu sein.

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