Gefaehrten der Finsternis
konnte er bei Weitem nicht ermessen, wer er war und wer er einst gewesen war, was für Erinnerungen er hatte und was für eine ruhmreiche Vergangenheit.
Während er nun zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein unterwegs war, vermisste Slyman den Einsamen so sehr, dass der Schmerz beinahe unerträglich war. Es fühlte sich an, als hätte man etwas aus ihm selbst herausgeschnitten. Als er durch die Letzte Stadt gekommen war, hatte ihn der Regent persönlich beherbergt und in allen Dörfern, die auf seinem Weg lagen, hatten ihn die Leute mit offenen Armen empfangen, wie einen Sohn, der vor langer Zeit in die Ferne gezogen und nun endlich zurückgekehrt war. Es waren friedfertige und freundliche Leute, die gern das wenige, das sie besaßen, mit ihm teilten. Für einen müden Reisenden hielt man hier immer einen Teller Suppe und ein Lager für die Nacht bereit. Der Einsame hatte auf seinem Weg Dörfer und Städte stets gemieden, weil er sich von allem und allen fern halten wollte, und so war die astfreundschaft für Slyman eine völlig neue, unbekannte, aber schöne Erfahrung. Er freute sich über das Lächeln und die Aufmerksamkeit der anderen, aber so warmherzig ihm all diese Leute begegneten, es war doch nicht so wie beim Einsamen.
Eines vermisste er ganz besonders: dass der Einsame in seinen Umhang gewickelt am Feuer saß und Slymans Schlaf bewachte, sobald die Nacht hereinbrach und die Schatten dichter wurden. Und nun in den dunklen Nächten auf seinem Weg durch das Ewige Königreich, wenn ihn unbekannte Geräusche von draußen aufschreckten, lag Slyman unruhig auf einem fremden Lager, fand keinen Schlaf und fragte sich, ob er wohl den nächsten
Morgen erleben würde. Dann umklammerte er fest den rotgoldenen Anhänger und hatte dabei einen Moment lang den Eindruck, dass der Einsame bei ihm wäre und ihn beschützte, so wie er es immer getan hatte. Erst dann konnte er endlich einschlafen und am nächsten Morgen, wenn er erwachte, waren die Schatten der Nacht wieder in weite Ferne gerückt. Und er konnte weiterziehen.
Dass es noch weitaus härter war, so ganz allein im Freien zu schlafen, fand er in seiner ersten Nacht in der Ödnis heraus. Das letzte Dorf hatte er am Morgen des Vortags hinter sich gelassen, als er die Wüste betrat, die die Grenzländer vom Rest des Reiches trennt und die die Ewigen »Ödnis« genannt hatten. Niemals hatte es Slymans Meinung nach einen passenderen Namen gegeben. Alles hier war kahl und ausgedörrt, ab und zu sah man die Überreste eines abgestorbenen Baumes oder einen stacheligen Riesenkaktus. Weit und breit keine Spur von Wasser. Große Vögel mit schwarzem Gefieder kreisten krächzend am Himmel über ihm.
Die Nacht in der Ödnis war ein wahres Martyrium. Slyman wusste, dass er seinen Schlaf brauchte, wenn er am nächsten Morgen weiterziehen wollte, mochte es noch so gefährlich sein, ungeschützt die Augen zu schließen. »Schlaf ist eine lästige Angewohnheit«, hatte der Einsame oft zu ihm gesagt, »die man so schnell wie möglich ablegen sollte. Ansonsten bringt einen das nur in Schwierigkeiten.« Obwohl Slyman einsah, dass der Einsame damit recht hatte, hatte er diese »lästige Angewohnheit« nie ganz ablegen können. Er wusste genau, dass er zumindest einige Stunden Schlaf pro Nacht brauchte.
Doch dann brach die Nacht in der Ödnis so unvermittelt herein. Auf einmal war es dunkel, ehe er überhaupt mitbekommen hatte, dass der Tag sich dem Ende zuneigte, und auf einen Schlag lag alles in bedrohlicher Finsternis. Die Nacht war undurchdringlich schwarz. UnbekannteTiere streiften durch die Dunkelheit,
raschelten und stießen Laute aus, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen. Slyman lag auf der nackten Erde bei dem kleinen Lagerfeuer, das er mit Mühe noch hatte entzünden können. Er hatte sich im schwachen Lichtschein zusammengerollt und hielt mit der Rechten den Griff seines Schwertes umklammert, während sich seine linke Faust auf der Suche nach Trost und Schutz um den Anhänger schloss. Doch an diesem so düsteren und unwirtlichen Ort schwand schließlich sogar das leichte Gefühl von Wärme, das der Anhänger ihm sonst vermittelte, und er fühlte sich nur noch allein, verloren und schutzlos. Erst bei Morgengrauen erhob sich ein sanfter Windhauch und er fiel in einen leichten, unruhigen Schlaf.Als er nach kurzer Zeit erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel und er musste unverzüglich aufbrechen.
Slyman machte sich wieder auf den Weg. Zu Fuß unter
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