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Gefaehrten der Finsternis

Titel: Gefaehrten der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chiara Strazzulla
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nicht hören, weil sein eigenes Blut so laut in seinen Ohren pochte, dass er taub für andere Geräusche war. Er verjagte eine Zecke von Ventels Hand. »Lass ihn in Frieden, du ekliges Vieh«, zischte Lyannen. »Er hat schon genug Blut verloren.« Dann ließ er den schlaffen Arm des Bruders resigniert auf den Boden sinken. Aber auf einmal durchzuckte ihn ein Gedanke wie ein Blitz.
    Wenn kein Puls da war, hieß das noch nicht, dass das Herz still stand.
    Er musste direkt am Herzen lauschen. Sein Ohr auf Ventels Brust legen.
    Doch dafür musste er seinem Bruder das Hemd ausziehen.
    Bei dem Gedanken schwindelte ihm. Für die Ewigen war es
ein schweres Vergehen, eine Leiche zu entblößen, damit verletzte man den Respekt dem Toten gegenüber, es war ein unverzeihlicher Frevel. Nicht einmal die engsten Verwandten taten das leichtfertig. Doch trotz all seiner Zweifel wusste Lyannen, dass er den Mut aufbringen musste, es zu tun, um festzustellen, ob sein Bruder wirklich tot war.
    »Verzeih mir, Ventel«, flüsterte er. Und dann löste er ihm den Umhang aus Mondseide.
    Es war schwieriger, als er gedacht hatte,Ventel das blutgetränkte Hemd auszuziehen. Obwohl die Glieder seines Bruders noch nicht steif waren, brauchte Lyannen lange, um ihm die Ärmel abzustreifen, und noch länger, um ihm das Hemd ganz auszuziehen. Schließlich schaffte er es. Mit nacktem Oberkörper wirkte sein Bruder trotz der Blässe fast lebendig. Er war schmutzig, und man sah das kleine Loch der Wunde, gerade unterhalb der Brustmuskulatur, aus dem noch Blut lief. Doch seine Muskeln wirkten glänzend und fest, wie bei einem Lebenden. Lyannen hielt den Atem an, bevor er sein Ohr an die Brust des Bruders legte. Er musste mit aller Kraft lauschen. Musste glauben. Und hoffen.
    Eine Zeit lang blieb es vollkommen still. Er presste sein Ohr noch fester gegen Ventels Brust. Dessen Haut war warm und weich. Sie roch nach Blut und Schweiß. Er durfte doch nicht so jung sterben. Lyannen legte sein Ohr einige Zentimeter tiefer an. Vielleicht lauschte er an der verkehrten Stelle.
    Und da hörte er es: einen leichten, kaum wahrnehmbaren Schlag. Einen Augenblick glaubte er, er hätte sich getäuscht. Doch nein, dann hörte er ihn wieder, langsam, aber regelmäßig. Für ihn war es das schönste Geräusch der Welt.
    »Ja«, sagte er leise. »Ja.«
    »Lyannen?«
    Er hob den Kopf. Seine Freunde umstanden ihn, alle waren schmutzig und blutverschmiert. Sie starrten ihn bestürzt an.
    »Was tust du da, Lyannen?«, fragte Validen.

    Lyannen zog sich hoch und sah sie sehr ernst an. »Kommt schon«, sagte er dann entschieden. »Steht hier nicht so herum, als wärt ihr festgewachsen.Wollen wir jetzt endlich etwas für Ventel tun oder wollen wir ihn vielleicht sterben lassen?«

ZEHN
    S LYMAN MAR SCHIE RTE ALLEINE vor sich hin und grübelte. Wo mochte der Einsame jetzt sein? Mittlerweile wohl schon in weiter Ferne, schließlich führte ihn seine Reise in die entgegengesetzte Richtung.
    Slyman fragte sich, warum der Einsame nicht selbst den Rebellen zu Hilfe kam, wenn ihm so viel an einem Gelingen ihrer Mission lag. Schließlich war er doch so viel erfahrener und geschickter als sein junger Schüler. Doch der Einsame hatte sich vor unendlichen Zeiten in seine Abgeschiedenheit zurückgezogen; da wieder herauszufinden, war gewiss nicht leicht. Es ging um viel mehr als ein freiwillig gewähltes Exil und Slyman hatte seine Beweggründe immer noch nicht so ganz verstanden. Der Einsame war mittlerweile zur Legende geworden, mehr ein Schatten als ein Mann aus Fleisch und Blut, eine Stimme in der Nacht. »Da kommt der rastlose Wanderer!«, riefen die Leute laut, sobald er in eine Stadt kam, und dann schlossen sie sich verängstigt in ihren Häusern ein. Der Einsame war zu eine Art übernatürlichem Wesen geworden, und jeden überlief ein Schauder, wenn seine düstere Silhouette sich vor dem Vollmond abzeichnete. Eine Gestalt in einem violetten Umhang, stets tief versunken in Geheimnisse, traurig und beunruhigend zugleich.
    Slyman empfand das anders. Für ihn war der Einsame kein unwirkliches fernes Wesen aus einer anderen Welt, sondern jemand,
der ihm sehr nahestand, zu dem er eine sehr innige Verbindung hatte. In den gerade mal dreihundert Jahren seines Lebens war der Einsame für ihn Vater, Mutter und Bruder zugleich gewesen, Meister und Vertrauter, Gefährte und Führer. Dreihundert Jahre lang hatte er niemanden außer ihm gehabt. Er kannte den Einsamen besser als jeder andere, und doch

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