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Gefaehrtin Der Daemonen

Titel: Gefaehrtin Der Daemonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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gotischen Pracht der University of Washington. Und zu meinen Füßen kauerte ein Kind.
    Viele Kinder. Vor dem Regen suchten sie in Torbögen Schutz, unter zerfetzten Markisen, oder hier, in den Gassen, unter Kartons und Müllbeuteln. Ich roch Hund und sah einen strähnigen braunen Schwanz unter einer Ölhaut hervorlugen, neben schlaksigen Gliedmaßen, gepiercten Nasen und glitzernden Augen. Tätowierungen bewegten sich im Schatten, aber es waren nicht meine. Meine Kleidung bedeckte mich immer noch vom Hals bis zu den Zehen, dazu trug ich Handschuhe.
    Ich hatte noch zehn Minuten. Die Sonne würde bald untergehen, das spürte ich auf der Haut. Die Straßenlampen brannten schon, trüb fluoreszierendes Licht, das in die Gasse schien. Die Gewitterwolken hatten sich nicht verzogen, sondern hingen prall von Schatten, Regen und Nebel so tief, dass es auch schon Nacht hätte sein können.
    Ich blinzelte Regentropfen von meinen Wimpern, hockte mich hin und warf einen Blick in einen Karton, der gegen einen Müllcontainer geschoben war. Ich begegnete Augen, so weiß wie Schnee und Stein, weißgrau, eingerahmt von schwarzem Lidschatten. Ein Junge, nicht mal vierzehn. Gerade so alt, dass ihm ein schwacher schwarzer Flaum an der Spitze seines Kinns wuchs. Er trug einen dicken Mantel und hatte Löcher in seinen Jeans, an den Stellen, wo die Knie waren.
    Seine Aura wirkte sauber. Kein Dämon hauste in seiner Seele. Er war kein Zombie, sondern nur ganz normal am Arsch.
    »Hi«, sagte ich freundlich und wünschte, ich hätte ein Foto von Badelt dabei, eines, das ihn zeigte, als er noch gelebt hatte.
»Ich würde gern ein paar Fragen stellen, wenn das in Ordnung ist.«
    Der Junge hatte scharfe Augen, so alt wie Staub. Er musterte mich, ich hielt still, blinzelte nicht einmal, zählte die Sekunden, während meine Haut kribbelte und jemand daran zupfte. Die Sonne ging unter. Irgendwo hinter den dunklen Wolken.
    »Du bist kein Cop«, sagte der Junge.
    »Kleiner«, antwortete ich bedächtig, »ich bin so ziemlich das Gegenteil von einem Cop. Aber ich brauche trotzdem Informationen. Hier in der Gegend wurde gestern Nacht ein Mann ermordet. Brian Badelt. Weißes Haar, langes Gesicht.«
    Nur fünf Blocks weiter. Die Polizei hatte den Tatort abgesperrt und einen Streifenwagen in der Einfahrt zur Gasse geparkt. Offenbar waren die Gerichtsmediziner noch nicht fertig. Ich war daran vorbeigegangen, mit hochgeschlagenem Kragen, und hatte einen kurzen Blick riskiert, wie ein ganz gewöhnlicher neugieriger Passant. Gesehen hatte ich nur glatten Beton und Schatten. Und die Erinnerung an das Gesicht eines Toten. Das waren keine Antworten, und es half mir auch nicht zu verstehen, warum er meinen Namen notiert hatte, oder ob er mich gesucht hatte. Und wenn ja, wieso seine Suche ihn hierher gebracht haben mochte.
    Ich wollte wissen, ob er wegen dieser Suche gestorben war. Meinetwegen.
    Vielleicht wussten die Gerichtsmediziner und die Spurensicherung ja schon die Antwort. Oder auch nicht. In den letzten zwei Stunden hatte ich herausbekommen, dass die Polizei die meisten Durchreisenden, die auf dieser Straße lebten, bereits gefragt hatte. Ich bezweifelte, dass Suwanai, McCowan oder ihre Leute, basierend auf den unterschiedlich kooperativen Antworten, viel herausgefunden hatten. Es sei denn, sie wandten miese Tricks an, wozu ich nicht bereit war. Die Erwachsenen
und die Kinder hier hatten schon genug Probleme, obdachlos oder nicht.
    Dann bemerkte ich etwas im Blick des Jungen. Mich beschlich ein Gefühl, das ich bei den anderen nicht empfunden hatte. Sein Blick wirkte weicher, als hätte ihn die Straße noch nicht verbittern lassen. Mein Herz tat weh. Ich wollte etwas tun, was ich aber nicht tun sollte.
    »Ich habe ihn gesehen«, flüsterte der Junge. Um uns herum öffneten sich Augen, schimmerten wie kalter Stahl in den nassen Schatten. Seine Bemerkung überraschte mich mehr, als sie sollte. So sehr, dass ich die Worte einen Moment lang in meinem Kopf wiederholte, sie abklopfte: ob er wirklich das gesagt hatte, was ich glaubte. Ich habe ihn gesehen. Ich habe gesehen. Ich sah.
    Meine Haut prickelte, bewegte sich. Ich wippte auf die Hacken zurück, hätte am liebsten die Augen geschlossen und den Jungen umarmt, die Luft angehalten, damit er sich nicht in Rauch auflöste und verschwand. »Was hast du gesehen?«
    Er zögerte, und obwohl sich die anderen Kinder im hinteren Teil der Kartons zusammenkauerten, war ich doch überzeugt, dass sie uns anstarrten. Sie

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