Gefaehrtin Der Daemonen
Weg, sich um ihre Kinder kümmern und ihnen ein besseres Leben anbieten zu können.
Die Jungs zogen an meiner Haut, als ich mich dem Kind näherte. Ich rieb mir die Arme, verlangsamte meine Schritte und hielt zwischen dem Kind und mir Abstand.
»Hallo«, sagte ich.
»Sei gegrüßt«, erwiderte das Kind, ohne sich zu rühren. Ich wartete einen Herzschlag lang und ging dann in einem weiten Kreis um es herum, unfähig, meinen Blick von seinem Gesicht zu reißen. Mir schwindelte, ich konnte mich kaum auf den Füßen halten. Kalte Furcht erstickte jeden vernünftigen Gedanken.
Das Mädchen war ich selbst. Mit acht Jahren.
Ich starrte sie an, während hinter mir Wagen vorbeifuhren. Ich hörte Möwen und das ferne Tuten einer Schiffssirene; lautes Lachen aus dem Heim und das schwache Knarren von Leder, als ich die Hände zu Fäusten ballte, damit sie nicht zitterten.
Das Mädchen blickte mich nicht an, aber ich sah den Rand seiner Augen. Sie waren wie meine, in Form und Farbe, aber kalt und leer. »Ich habe Dinge gehört, selbst in der Dunkelheit. Im Schleier. Große Geschichten von dieser Welt, die nach unserer Passage entstanden sind. Menschheit, die sich in das Reich der Erleuchtung aufgeschwungen hat, anders als jeder andere jenseits des Labyrinths. Welche Wunder.« Sie flüsterte, und ihre Stimme klang erwachsen. »Welch verzweifelte, schreckliche Wunder.«
»Und jetzt bist du hier«, sagte ich. »Und du siehst.«
»Ich sehe«, erwiderte die Kleine. »Ich bin voller Sehen, und dennoch hungert es mich. Diesen Hunger kannst du nicht verstehen. Für Unsterbliche, die jenseits der Ewigkeit in der Falle sitzen, im unermesslichen Gefängnisdunkel, sind Geschichten Währung. Geschichten sind Leben. Mit Geschichten wird gehandelt, sie werden zu Blut.«
Ihre Erscheinung war ein Affront, der mich zweifellos aus
dem Gleichgewicht bringen sollte. Aber es waren vor allem ihre Worte, die mich erschütterten. »Du hast den Schleier nicht überwunden, um Geschichten zu jagen.«
Das Mädchen lächelte und blickte in die Ferne. »Im Gegenteil. Ich bin nur deswegen gekommen. Und … oh, was für Geschichten ich erzählen werde. Keine Bannwächter. Keine Avatars. Menschen, unwissend und in ihrem Elend kreischend. Nichts, was diese Welt beschützt. Diese Welt, die in nichts dem gleicht, was wir glaubten. Reiche, die verschwendet wurden. Gold und Eisen, aber keine Seele.«
»Du klingst enttäuscht.«
Das Mädchen zog seine kleine Hand aus der Tasche. Ein Strick baumelte von seinen Fingern herunter. Vielleicht war es auch Haar, zu einer Schnur geflochten. »Erinnerungen messen sich miteinander. Ich bin älter als manche anderen. Ich erinnere mich an andere Welten, an strahlende Welten. Ich hatte gehofft, dass diese hier ihren Platz in dem Pantheon einnähme. Aber was bin ich schon, außer vielleicht altmodisch, was meine Wünsche betrifft? Wenn wir hier fertig sind, wird es andere Reiche zu bewundern geben. Eine Unendlichkeit jenseits des Labyrinths.«
Es redete mit sich selbst. In Rätseln. »Du bist hierhergekommen, weil du mich sehen wolltest. Du weißt, was ich bin.«
»Du, Jägerin«, erwiderte das Mädchen verächtlich. »Du bist die Gefängniswärterin. Wirt für eine Armee von Zwergen. Ich habe auch Geschichten von deiner Blutlinie gehört, aber mit dir muss man nicht rechnen. Zehntausend Jahre verwässern den Geist. Und menschliches Fleisch war immer schon leicht zu schneiden.«
»Dann kennst du mich also doch nicht«, erwiderte ich ruhig und trat näher. »Du bist herzlich eingeladen, dich in der Reihe anzustellen.«
Das Mädchen lächelte. »Eines vorweg, Jägerin, bevor wir uns
im Gras wälzen. Erzähl mir von Jack. Von Jack und seiner Sarai Soars. Dem Wolf und dem Einhorn.«
Erwarte das Unerwartete. Aber die Frage traf mich trotzdem bis ins Mark. Ich zwang mich, kühl und gelassen zu bleiben. »Woher kennst du sie?«
Das Mädchen hob die Hand. Ihre Haut schimmerte und wurde so durchscheinend, dass ich durch die Handfläche hindurch das Gesicht erkennen konnte. Sie war wie Rauch. Um uns herum wurde die Luft kühler, als zöge Eis vorbei.
Ich knirschte mit den Zähnen. »Also warst du das gestern Nacht.«
Die Hand wurde wieder fester. »Meine Augen sind überall. Jack und Sarai sind, ganz gleich, als was sie sich selbst bezeichnen mögen … alte Freunde. Stell dir meine Überraschung vor, als ich dich bei ihnen sah. Stell dir das nur vor. Wärst du nicht da gewesen, wir würden uns jetzt nicht unterhalten.
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