Gefährtin Der Finsternis
Aufgabe. »Ich bin eigentlich nicht hungrig.«
»Ihr müsst meinetwegen nicht fasten«, protestierte Simon.
»Das tue ich, ehrlich gesagt, auch nicht.« So arglos sie auch scheinen mochte, dachte Simon, so war sie doch kein einfältiges Kind. Die kalte Intelligenz, die er zunächst auf den Zinnen bemerkt hatte, hatte ihre Stimme gekräftigt, und ein Funken Temperament blitzte in ihren Augen auf, der ganz im Gegensatz zu ihrer zierlichen Erscheinung stand. »Hannah«, sagte sie und hielt eine Dienstmagd auf. »Deckt einen Platz für Meister Orlando, und sorgt dafür, dass er seinen Anteil bekommt. Mein Cousin wird sich mir im Sonnenraum anschließen.«
»Wartet, Mylord«, protestierte Orlando besorgt. »Ich muss bei Euch bleiben.«
»Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben, Meister Zauberer«, sagte Isabel, die gegen ihren Willen amüsiert war. Der Zwerg schien ein richtiger Angsthase zu sein. »Ich werde ihm keine Honigkuchen vorsetzen, sobald Ihr ihm den Rücken gekehrt habt.«
»Das ist es nicht, Mylady«, sagte Simon. »Orlando hat geschworen, mir bei meiner Suche zu helfen, und er weiß viel über meine Visionen …«
»Mehr als Ihr selbst darüber wisst?«, unterbrach sie ihn und wandte sich ihm mit großen, unschuldigen Augen zu.
Ihre Provokation war unmissverständlich. »Nein, Cousine«, antwortete Simon und begegnete über ihre Schulter hinweg Orlandos Blick. Ihre größte Hoffnung auf Erfolg ihrer Täuschung bestand darin, das Vertrauen der Lady und damit Zugang zu den Katakomben zu erlangen, von denen der Priester gesprochen hatte. Der Zauberer nickte leicht. »Natürlich werde ich mit Euch allein sprechen.«
»Ist er also Euer Hüter?«, fragte Isabel, während sie die Treppe hinaufstiegen und Orlando an den Tisch trat.
»Nein, das ist er nicht«, antwortete Simon. »Aber ich denke, manchmal vergisst er das.«
Er folgte ihr in den Sonnenraum, verglichen mit der gemütlichen Halle ein überraschend spartanischer Raum. Ein Dienstbote war mit ihnen gekommen, um ein Feuer im Kamin anzufachen, aber die Kälte würde hartnäckig bleiben, da die Wände kahl waren. Zwei schwere Stühle und ein Webrahmen waren die einzigen Möbelstücke, und sie waren staubbedeckt.
»Wir nutzen diesen Raum nur selten, seit mein Vater gestorben ist«, erklärte Isabel und wischte über einen Stuhl. »Aber hier können wir ungestört reden. Die Halle ist voller neugieriger Ohren, und wir hatten einen ziemlich anstrengenden Tag.«
»Das gilt übrigens für die meisten Hallen, wie ich bemerkt habe«, stimmte Simon ihr zu. »Aber warum war Euer Tag so anstrengend?«
»Ihr habt den Schwarzen Ritter gesehen, nicht wahr?«, sagte sie mit seltsamem, kleinem Lächeln. »Würdet Ihr ihn nicht als besorgniserregend bezeichnen?«
»In der Tat.« Er betrachtete den erst halbwegs fertiggestellten Wandteppich auf dem Webrahmen. »Das ist hübsch.« Er zeigte ein Mädchen in einem Wald, das ein Tier zähmte – während der vergangenen hundert Jahre ein beliebtes Thema. Aber das Haar dieses Mädchens war nicht rot, sondern golden, und das Tier, dessen Kopf auf ihrem Schoß ruhte, war kein Einhorn, sondern ein Wolf. »Habt Ihr das gewebt?«
»Ich? Nein«, sagte Isabel lachend. »Meine Mutter war eine Weberin, nicht ich. Ich habe kein Talent dafür.«
»Ist Eure Mutter auch tot?«, fragte Simon und gesellte sich zu ihr.
»Sie starb an dem Tag, an dem ich geboren wurde.« Sie hatte Mitleid in seiner Stimme gehört, und das wollte sie nicht dulden, nicht von einem Fremden, auch wenn er ihr Verwandter war. Euer Stolz wird Euer Untergang sein, Mylady, sagte Pater Colin ihr nur allzu gerne. Er hatte wahrscheinlich Recht. Aber sie war die Tochter ihres Vaters, die Lady von Charmot. Sie wollte nicht bemitleidet werden. »Ich kannte sie nicht«, sagte sie kalt.
»Dann bedaure ich es noch mehr«, antwortete Simon und setzte sich hin.
»Warum?«, fragte sie ihn mit unsicherem Lächeln. »Was hat das mit Euch zu tun?« Sie starrte in die Flammen im Kamin, sah bewusst fort. Er schien in diesem helleren Licht noch besser auszusehen als im Hof, seine Haut war noch perfekter und fahl. Sie hatte von Heiligen gelesen, deren gottesfürchtiger Lebenswandel ihnen das Erscheinungsbild eines Engels verlieh. Aber was sollte sie mit einem Heiligen anfangen? »Erzählt mir von Eurer Vision, Cousin«, sagte sie laut, noch immer das Feuer betrachtend. »Was wolltet Ihr von meinem Vater?«
»Ihr solltet besser mir etwas erzählen, Cousine«, antwortete er.
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