Gefährtin Der Finsternis
gewiss Wachen gehabt haben, als sein Schloss schließlich erbaut war.«
»Gewiss«, antwortete sie und wurde ein wenig ernster. Sie musste vorsichtig sein, sonst würde sie ihm alles erzählen – einschließlich Brautus’ List. Es fiel ihr so leicht, mit Simon zu reden, obwohl sie sich erst knapp einen Tag kannten, viel leichter als mit jedem anderen jungen Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Nicht dass sie viele gekannt hätte – den Boten des Königs und gelegentliche Hausierer. Die einzigen fremden Adligen, die sie seit dem Tod ihres Vaters gesehen hatte, waren sicher auf der anderen Seite der Mauer geblieben. Aber sie hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, mit einem von ihnen zu reden, und es war ihr undenkbar erschienen, dass es so einfach sein könnte. Anders als die Ritter, die des Kampfes wegen nach Charmot kamen, war Simon, da er glaubte, dass er verflucht sei, nicht stattlich oder wichtigtuerisch oder auch nur besonders ernst. Aber es machte ihr Spaß, mit ihm zusammen zu sein. »Gewöhnlich hielt sich hier ein ganzes Regiment auf«, räumte sie ein. »Aber als Papa starb, suchten sie sich alle einen neuen Herrn.« Sie erhob sich, war plötzlich befangen. »Charmot ist sehr ruhig, wisst Ihr, und nicht sehr einträglich. Wir haben nicht einmal ein richtiges Dorf.« Sie nahm den Schlüssel ihres Vaters aus ihrer Tasche. »Aber nun sollte ich Euch ruhen lassen.«
»Wartet«, sagte er, ohne nachzudenken, erhob sich und trat mit zwei langen Schritten zu ihr. Bleib hier bei mir, wollte er sagen. Rede mit mir, und lache, und lass mich dich ansehen. Lass mich einfach nicht allein.
»Was ist los?«, fragte sie und blickte in seine Augen. Alles hatte sich in einem einzigen Augenblick verändert. Sein Lächeln war verschwunden und von einem Ausdruck ersetzt worden, der so traurig und verloren wirkte, dass sie am liebsten geweint hätte. Wer bist du?, wollte sie ihn fragen. Was ist das für ein Fluch, der dich bindet? Was hat dich so verletzt? Aber das konnte sie natürlich nicht.
Er wollte sie berühren, wie er bemerkte. Der Hunger, von dem er geglaubt hatte, dass er verschwunden wäre, war noch da. Er hatte sich nur in etwas Subtileres und Gefährlicheres verwandelt. Er konnte ihre weiche, warme Wange schon an seiner Handfläche spüren, als er sich vorstellte, sie zu halten. Aber er wagte es nicht. »Ich muss Euch danken, Cousine«, sagte er laut und zwang sich, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Sie war ein argloser Mensch. Das musste der Grund dafür sein, warum sie ihn so tief berührte. Er hatte keine Erfahrung darin, in seinem Zustand der Verlockung eines adligen Mädchens zu widerstehen. Jede andere adlige Schönheit hätte in ihm dasselbe Gefühl hervorgerufen – das musste er glauben. Orlando hatte Recht. Er durfte sich nicht ablenken lassen »Danke«, wiederholte er und umarmte sie als eine Verwandte, auf dieselbe Art, wie sie am Vorabend ihn umarmt hatte.
»Gerne, Cousin.« Seine Arme schlossen sich um sie, und einen Moment lang presste sie ihre Wange an seine Brust und atmete den warmen, männlichen Duft ein, der in den Armen ihres Vaters stets eine Zuflucht bedeutet hatte. Aber etwas stimmte nicht, etwas fehlte. Da war nicht … Aber bevor sie den Gedanken formulieren konnte, ließ er sie schon wieder los. »Gerne«, wiederholte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Schlaft gut.«
»Das werde ich«, versprach er und lächelte, während sie ging.
Sie fand Orlando, in eine Schriftrolle vertieft, noch immer am Schreibtisch ihres Vaters sitzend vor, die letzte der Kerzen, die sie für die beiden dagelassen hatte, bis auf einen Stumpf heruntergebrannt. »Guten Morgen, Meister Orlando«, sagte sie und nahm den Schlüssel aus ihrer Tasche, um ihm zu verdeutlichen, dass es Zeit sei zu gehen. »Ich fürchte, ich störe Euch durch mein Kommen.«
»Überhaupt nicht, Mylady. Es ist schon spät – oder vermutlich früh.« Er rieb sich die Augen. »Ich vergesse, dass nicht jeder den Tag zur Nacht macht.«
»Ich muss zugeben, ich verstehe nicht, wie ihr das schafft, ihr beide.« Er hatte seinen Umhang abgelegt, und viele der kleinen Taschen und Börsen, die sie zuvor an ihm bemerkt hatte, hingen nun an den Regalen. Eine lag geöffnet auf dem Schreibtisch, und daraus ergoss sich etwas, das wie die Wahrsagesteine eines Sehers aussah, über eine weitere Schriftrolle. »Oder warum ihr es überhaupt versuchen solltet.« Orlando musste die Details von Simons Fluch kennen. Warum sonst wäre
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