Gefaehrtin der Nacht
und die gute Figur. Sie würde nie verstehen, warum diese oberflächlichen Dinge so eine große Rolle spielten. Sie war der Meinung, dass jeder schön war – und nicht, weil sie so naiv war zu glauben, dass jeder eine schöne Seele besaß. Nein. Allegra fand die meisten Leute, denen sie begegnete, wirklich wunderschön. Was machten da schon ein paar Pfund mehr auf den Rippen, eine krumme Nase oder ein Leberfleck aus? Sie liebte es, sich die Menschen anzusehen.
Letztendlich war sie genauso schlecht dran wie Bendix, oder etwa nicht? Sie hatte ein perfektes Äußeres und konnte zu allem Überfluss auch noch jeden gut leiden. Manchmal hatte sie es satt, sie selbst zu sein.
»Ich kann dir in Latein helfen, wenn du möchtest«, bot Bendix an, während sie ihre Sachen zusammenpackten und sich einen Weg aus der Klasse bahnten.
»Du willst mir Nachhilfe geben?« Das war neu. Ein Red Blood bot einem unsterblichen Vampir an, ihm etwas beizubringen. Charlie würde nur höhnisch grinsen. Allegra schüttelte den Kopf. »Das kriege ich schon hin, danke. Ich muss nur mehr Vokabeln büffeln.«
»Wie du willst. Aber vergiss nicht: Wenn du deinen guten Notendurchschnitt nicht behältst, kannst du die Feldhockeymannschaft und die Ligameisterschaften abhaken«, sagte Bendix und hielt ihr die Tür auf.
Da war etwas dran.
Während der nächsten Wochen traf sich Allegra jeden zweiten Abend mit Bendix in der Bücherei zum Lateinunterricht. Was als ehrliches Bemühen begonnen hatte, Allegra die Sprache beizubringen, artete in langen und äußerst tief greifenden Diskussionen über alles Mögliche aus: die Qualität des Essens in der Mensa (grauenhaft), ihre Meinung zur Lage in Palästina, ob Abracadabra von der Steve-Miller-Band der schlechteste oder der beste Song war, der jemals geschrieben wurde (Bendix war für den besten und Allegra für den schlechtesten Song).
Eines Abends lehnte sich Bendix über das Lateinbuch und seufzte. Sein blonder Pony fiel ihm über die Augen und Allegra unterdrückte das Verlangen, ihm die Haare aus der Stirn zu streichen.
»Kommt deine Familie nächste Woche zum Elterntag?«, fragte er. »Du bist aus New York, stimmt’s?«
Allegra nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Meine Mutter kommt natürlich. Das würde sie sich niemals entgehen lassen. Mein Vater … ist fort.« Das schien der einfachste Weg, Lawrences Abwesenheit zu erklären. »Und deine?«
»Nee. Meine Mutter hat eine Geschäftsbesprechung, deshalb muss sie in San Francisco bleiben. Und Dad kann ich damit nicht belästigen. Das würde ihn bei seinem künstlerischen Schaffen stören.«
»Dein Dad ist Künstler?«
»Er baut Skulpturen aus irgendwelchen Fundstücken. Bis jetzt hat er noch keine verkauft, vielleicht weil sie wie Müllhaufen aussehen. Aber sag ihm das nicht.«
»Das klingt nicht gerade, als würdest du die beiden besonders mögen«, sagte Allegra mitfühlend. Sie empfand große Zuneigung zu Lawrence und Cordelia. Es war nur so, dass sie Lawrence seit Jahren nicht gesehen und Cordelia sich in eine schrille, nervöse alte Dame verwandelt hatte.
»So ist es. Eigentlich sind meine Eltern ganz okay, aber sie hatten nie viel Zeit für mich. Ups, habe ich das wirklich gesagt? Ich hasse Selbstmitleid.«
Allegra lächelte und öffnete ihr Lateinbuch. »Wenn du möchtest, teile ich Cordelia mit dir. Sie liebt es, meine Freunde kennenzulernen. Was ich von Charlie leider nicht behaupten kann.«
»Was hat dein Bruder eigentlich gegen mich? Ich habe ihm nie etwas getan«, erwiderte Bendix mit bekümmerter Miene.
»Oh … er wird … er wird darüber hinwegkommen«, sagte Allegra. Sie hustete. »Wie auch immer … zurück zu Latein?«
»Also, geht ihr jetzt miteinander, oder was?«, fragte Birdie, als Allegra kurz nach Mitternacht das Zimmer betrat, das die beiden Mädchen teilten.
»Miteinander gehen? Wer? Wovon redest du?«, fragte Allegra und errötete leicht, während sie ihre Bücher wegräumte.
Sie waren wieder nicht beim Deklinieren angekommen. Stattdessen hatten sie den Rest des Abends diskutiert, ob es besser war in San Francisco oder in New York aufzuwachsen. Allegra, die eng mit Manhattan verbunden war, vertrat die Meinung, dass »die City« San Francisco in jeder Hinsicht übertreffen würde – seien es die kulturellen Angebote, Museen oder Restaurants. Bendix dagegen verteidigte die Stadt an der Bucht und lobte sie für ihren geheimnisvollen Nebel, ihre Schönheit und die liberale Politik. Doch
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