Gefaehrtin der Nacht
denn Bendix klang zu ernst und passte nicht zu seinem lustigen Charakter. Und es störte sie nicht, dass er Legs zu ihr sagte – im Gegenteil. Es klang so unbeschwert. Es war untypisch für sie. Er sah eine Seite an ihr, die bis jetzt niemand entdeckt hatte.
Für die Blue Bloods würde sie immer Gabrielle, die Tugendhafte, die Verantwortungsbewusste, ihre Königin, ihre Mutter, ihre Erlöserin sein. Doch für Bendix Chase war sie nicht einmal Allegra van Alen, sie war einfach nur Legs. Dadurch fühlte sie sich jung, abenteuerlustig und unbekümmert. Eigenschaften, die nicht auf Gabrielle zutrafen.
Und dann war er auch noch so unglaublich süß.
»Komm her«, flüsterte sie und zog ihn an seiner albernen Robe zu sich heran.
»Hä?«
Sie zog ihn noch dichter zu sich und als er sah, was sie wollte, bekamen seine Augen einen sanften Ausdruck. Er hatte die gütigsten blauen Augen, die sie jemals gesehen hatte. Dieser Junge war so wunderschön, der attraktivste Junge auf der ganzen Welt – und als sie ihm ihr Gesicht entgegenhob, beugte er sich zu ihr, während seine Arme ihre Taille umfassten und sie festhielten.
Es war nur ein Kuss, doch sie wusste sofort, dass daraus mehr werden würde.
»Hast dir ganz schön Zeit damit gelassen, Legs«, raunte er ihr ins Ohr.
»Hmm …«, stimmte sie ihm zu. Sie hatte es langsam angehen wollen. Doch was war schon dabei? Er war nur ein Mensch. Es war nur ein Flirt. Er könnte höchstens als ihr Vertrauter enden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sie schon viele Vertraute gehabt.
Allegra glühte noch immer von Bens Kuss, als sie auf dem Weg zum Wohnheim mit ihrem Bruder zusammenstieß.
»Wo bist du gewesen?«, wollte Charles wissen. »Ich habe nach dir gesucht. Du warst heute Abend nicht beim Treffen des Komitees .«
»Oh, war das heute? Hab ich vergessen. Ich war beschäftigt.«
»Womit? Erzähl mir bloß nicht, dass du ein Mitglied dieses idiotischen Geheimbundes geworden bist«, spottete er.
»Das ist gar nicht so idiotisch, Charlie. Ich meine, natürlich ist es albern, aber nicht idiotisch. Da gibt es einen Unterschied.«
»Diese Verbindung ist nur eine traurige menschliche Kopie des Komitees . Wir waren zuerst hier.«
»Und wenn schon.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber sie schmeißen viel bessere Partys.«
»Was ist nur mit dir passiert?«, fragte Charles. Seine Stimme klang flehend.
Für einen kurzen Augenblick bemitleidete Allegra ihn. »Nichts, Charlie. Bitte, nicht hier.« Sie schüttelte den Kopf.
»Allegra, wir müssen reden.«
»Es gibt nichts zu bereden.«
»Doch. Cordelia … sie kommt am Sonntag zum Elterntag.«
»Dann grüß sie von mir.« Ohne ein weiteres Wort verschwand Allegra im Wohnheim.
Die Nacht hatte so verheißungsvoll begonnen. Im Wald, als sie mit den Peithologen herumgealbert und Ben geküsst hatte. Für einen Moment hatte sie sogar geglaubt, sie sei eine ganz normale Sechzehnjährige. Und dann hatte Charlie den Funken Hoffnung auf ein wenig Spaß im Leben mit ein paar Worten erstickt.
5
Mutter und Sohn
C harles van Alen mochte nur eines an seiner Mutter – eigentlich seiner Zyklusmutter: dass sie ihn im Gegensatz zu allen anderen nie bei seinem dummen Spitznamen nannte.
»Charles, ich hatte gehofft, dass deine Schwester uns heute Gesellschaft leistet«, sagte sie, während sie ihm Tee eingoss. Es war Elterntag und das Schulgelände war leer, weil die Sponsoren des Internats – diejenigen, die das unglaublich hohe Schulgeld zahlten – gekommen waren, um ihre Sprösslinge zu besuchen und sie zum Essen in die teuersten Restaurants der Stadt geschleppt hatten. Cordelia war etwas früher an diesem Nachmittag mit einer Limousine angereist und hatte Charles gleich in das renommierteste Hotel zum Teetrinken mitgenommen.
Er lehnte sich in dem unbequemen Stuhl zurück. Warum bestanden Frauen auf diese lächerlichen Gepflogenheiten? »Ich habe ihr gestern Abend eine Nachricht hinterlassen, um sie zu erinnern. Aber sie ist … ziemlich zerstreut in letzter Zeit.«
»Ist sie das?« Cordelia spitzte die Lippen. Sie war klein und ihre Gesichtszüge wirkten vogelartig, doch ihre Stimme klang kräftig. Und obwohl ihr Ansehen im Rat der Ältesten abgenommen hatte, übte sie noch genügend Macht aus, um für diesen Zyklus als seine Aufsichtsperson bestimmt worden zu sein. »Und wovon wird unsere Allegra so abgelenkt?«
Charles blickte finster drein. »Sie hat einen neuen Freund. Einen, den sie zu ihrem Vertrauten machen könnte.«
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