Gefaehrtin der Nacht
seine gütigen blauen Augen. Er war bei der Geburt dabei. Allegras Herz war sich sicher, auch wenn ihr Verstand das Unmögliche nicht wahrhaben wollte. Sie würde ihr gemeinsames Kind zur Welt bringen. Ein Halbblut. Eine Abscheulichkeit. Eine Sünde gegenüber dem Kodex der Vampire. Dem Kodex, den sie mit aufgestellt und durchgesetzt hatte. Die Vampire hatten nicht die Gabe, Leben zu zeugen. Dieser Segen Gottes wurde nur den Menschen zuteil. Und dennoch war es geschehen … Aber wie?
Irgendwo tief in ihrer Seele und in ihrem Blut kannte sie die Antwort. Sie lag in ihrer Vergangenheit. In einem vergangenen Leben, dessen Erinnerung sie nicht ertragen konnte.
Was würde Ben zustoßen? Würde Charles ihn töten? Wo war Ben? Warum fehlte er in der zweiten Vision?
Sie hatte noch nie zuvor eine Vision gehabt, diese Fähigkeit war allein den Wächtern vorbehalten.
Charles griff nach ihrer Hand. »Was auch immer es ist, was auch immer passiert ist, was auch immer du gesehen hast, es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Vor allem hast du von mir nichts zu befürchten. Niemals«, flüsterte er. »Das weißt du …«
»Charlie …«, sagte sie seufzend und öffnete entnervt die Augen.
»Charles.«
»Charles.« Sie sah ihm in die blaugrauen Augen, die von seinem dichten schwarzen Haar fast verdeckt wurden. Schließlich erzählte sie ihm, was sie beschäftigte, was sie schon so lange gefühlt und tief in ihrem Inneren unterdrückt hatte. »Ich verdiene deine Liebe nicht. Nicht mehr. Nicht seit …«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Natürlich verdienst du sie. Du gehörst seit einer Ewigkeit zu mir. Wir gehören zusammen.« Er hielt ihre Hand noch fester, auf sanfte und nicht auf besitzergreifende Art.
Dann begriff Allegra endlich. Es gab einen Weg, das Ganze zu stoppen, die Abwärtsspirale anzuhalten. Die Schrecken der Zukunft abzuwenden. Ben am Leben zu erhalten. Denn in der zweiten Vision, das wusste sie, war er tot. Sie musste die Tragödie verhindern, die sich ereignen würde, wenn sie ihren menschlichen Vertrauten weiterhin liebte. Denn es war Liebe, was sie für Ben empfand, das hatte sie jetzt erkannt. Es war nicht das bloße Verlangen nach Blut, das einen Vampir mit seinem Vertrauten verband, sondern Liebe. Ihr eigenes Blut, das unsterbliche blaue Blut in ihren Venen hatte versucht, sie davon abzubringen, so zu empfinden. Es hatte eine Zukunftsvision heraufbeschworen, um ihr vor Augen zu führen, was passieren würde, wenn sie diese Liebe lebte.
Ihre Liebe würde sie vernichten. Sie würde alles vernichten. Würde ihnen beiden das Leben kosten und ihre Tochter allein und schutzlos in der Welt zurücklassen.
Sie musste Bendix nicht lieben. Sie musste nicht im Koma enden. Ihre Tochter – sie spürte eine tiefe Traurigkeit, als würde sie eine Tochter vermissen, die schon geboren war –, würde niemals existieren. All das würde niemals geschehen.
Es gab einen Ausweg. Sie konnte sich mit Charles verbinden. Als Gabrielle könnte sie erneut ihren rechtmäßigen Platz an seiner Seite einnehmen. In diesem Moment akzeptierte sie die Bedeutung ihrer Verbindung – ihre Geschichte, die Sicherheit der Vampirgemeinschaft, ihr Vermächtnis. Sie war ihre Königin und ihre Erlöserin. Für einen Augenblick fühlte sie wieder ihr altes Selbst. Sie war so schnell in die entgegengesetzte Richtung gerannt, dass sie vergessen hatte, dass es keinen Ort im Universum gab, an den sie fliehen konnte. Vor ihrer Pflicht.
Sie entschied, dass sie Bendix nie wiedersehen würde. Um ihn und sich selbst zu schützen, musste sie Abschied nehmen. Es war vorbei. Sie würde ihn immer lieben, doch sie würde nichts tun, um diese Liebe zu leben. Mit der Zeit würde alles verblassen. Sie hatte alle Zeit der Welt.
Charles hielt noch immer ihre Hand.
Es war ein Fehler gewesen, Charles abzuweisen, ihn wegzustoßen, bei seiner Berührung zurückzuschrecken. Das erkannte sie jetzt. Seine ewige Liebe war keine Last, sie war ein Geschenk. Sein Herz gehörte ihr. Und dieser Verantwortung konnte sie gerecht werden. Sie würde es sicher verwahren.
Sie berührte zärtlich seine Wange. Michael .
Mehr musste sie ihm nicht in Gedanken sagen. Er hatte verstanden.
1
Etwas Blaues
S kyler van Alen hatte sich selbst nie als Brauttyp gesehen, deshalb war sie etwas irritiert, sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit in dem eleganten Hochzeitsausstatter wiederzufinden, den sie an diesem Morgen betreten hatte. Zunächst hatte sie
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