Gefaelschtes Gedaechtnis
war richtig enttäuscht, weil sie ihn nicht wiedergefunden hat.«
Sie rollten durch das flache Weideland der Delmarva-Halbinsel, und der Horizont war eine unsichtbare Linie zwischen der dunklen Erde und dem noch dunkleren Himmel. Hier und da ragte ein Silo in die Luft, und die Metallskelette von Entwässerungsgeräten standen reglos auf den abgemähten Getreidefeldern. Alle paar Meilen kamen sie an Gemüse- und Obstständen vorbei, die jetzt im Winter mit Brettern vernagelt waren.
Als sie an eine Kreuzung kamen, wo es nach Norden Richtung Rehoboth und nach Ocean City im Süden ging, wusste Duran nicht so recht, wie er fahren sollte.
»Wir nehmen die 113«, erklärte Adrienne.
»Aber —«
»Glauben Sie mir«, sagte sie. »Ich hab mal hier in der Gegend gelebt, wissen Sie noch?«
Duran runzelte die Stirn. »Nein.«
»Ach ja, stimmt ja«, bemerkte sie in sarkastischem Tonfall. »Sie sind ja der Meinung, dass wir weiter südlich gewohnt haben. Wo war das noch mal? Alabama?«
»South Carolina«, erwiderte Duran.
»Da vorne links.«
Etwa fünfundvierzig Minuten später fuhren sie durch Denton, Delaware, und machten einen Umweg, um an dem Haus vorbeizufahren, in dem Adrienne, wie sie sagte, mit Nikki gewohnt hatte. Es war ein gepflegtes, flaches Ziegelhaus, mit einem Carport mit Plastikdach und einem von Purpurwinden umrankten Briefkasten. Im Vorgarten standen zwei Bäume, deren rundliche Kronen so zurechtgestutzt worden waren, dass eine Stromleitung hindurchführen konnte.
Eine halbe Stunde später, als sie sich Bethany Beach näherten, hatte sich der Horizont bereits rosa verfärbt. Duran spürte die Vorfreude in sich aufsteigen. Sobald er das Strandhäuschen sah, sobald er wirklich davor stand, würde die Vergangenheit wieder ihm gehören. Und zwar unbestreitbar. Er konnte Adrienne alles zeigen — die weißen Steine und die Außendusche, den kleinen Garten. Auch wenn nichts mehr so wäre wie damals, es wäre immer noch dasselbe. Da war er ganz sicher.
Kurz darauf verkündete er: »Gleich sehen Sie den berühmten Totempfahl von Bethany Beach!« Einen Augenblick später kamen sie um eine Biegung, und da stand er, ein hoch aufragendes, kitschiges Symbol. Als sie näher heranfuhren, konnte er das ins Holz geschnitzte längliche Gesicht des Indianers erkennen. Es war, als sähe er einen alten Freund. Mit einem jähen Wehmutsgefühl erinnerte er sich an ein Kindheitsritual, das er früher mit seinem Vater zelebriert hatte: Immer wenn sie an die Kreuzung kamen, waren sie in Kriegsgeheul ausgebrochen.
»Wann waren Sie das letzte Mal hier?«, fragte Adrienne.
Er dachte nach. »Ich weiß es nicht. Da war ich noch ein Kind.«
Die Straße endete unmittelbar vor den Stufen, die hinunter zum Meer führten, und er bog nach rechts auf eine Straße, die parallel zum Strand verlief.
»Haben Sie gedacht, wir könnten hier unterkriechen?«, erkundigte sich Adrienne. »Ich meine, wenn Sie sich nicht mal daran erinnern können, wann Sie zuletzt hier waren, dann ist das Cottage ja wohl nicht mehr im Familienbesitz, oder?«
Natürlich hatte sie Recht, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Es kam ihm selbst seltsam vor. Er hatte keinen Gedanken mehr an das Cottage verschwendet. Gehörte es noch immer ihm? Hatte es ihm überhaupt je gehört? Eigentlich müsste es ihm gehören, aber er war unsicher. Die Frage hatte sich nie gestellt. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte: Nein, seit dem Tod seiner Eltern war er nicht mehr hier gewesen. Seine einzigen Erinnerungen an das Haus waren Kindheitserinnerungen. Kniffel und Mensch-ärgere-dich-nicht, Monopoly und in den Wellen spielen.
Doch das würde sich alles aufklären, dachte Duran, sobald er das Cottage sah.
Einige der Häuser, an denen sie entlangfuhren, waren modern und zum Schutz vor Hurricanes auf Pfählen gebaut. Die meisten hatten abgestufte Veranden und waren sehr viel größer als die alten Cottages. Fahnen mit Leuchttürmen, Krabben, Sonnenblumen darauf flatterten im Seewind. Diese neuen Häuser waren ihm fremd, aber alles andere war genau so, wie er es in Erinnerung hatte, bis hin zu den Maklerschildern neben jeder zweiten Einfahrt. Zu vermieten: Anna Liotta, Hickman Immobilien. Zu vermieten: Connor & Co. Die meisten Strandhäuser wurden den Sommer über auf Wochenbasis vermietet — wenn die Besitzer nicht gerade selbst dort Ferien machten. Er versuchte sich zu erinnern, ob seine Familie den ganzen Sommer über hier gewesen war, aber er wusste es nicht
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