Gefaelschtes Gedaechtnis
mehr.
»Und?«, fragte Adrienne.
»Was und?«
»Ich hab Sie gefragt, ob —«
»Ich weiß nicht«, unterbrach er sie beunruhigt. »Ich weiß nicht, was mit Beach Haven passiert ist, nach dem Tod meiner Eltern.«
»Aber Sie sollten —«
»Ich will es bloß sehen«, sagte er mit Nachdruck. »Und überhaupt — es ist hier ganz in der Nähe.« Sie bogen nach links auf die Third Avenue, und er zählte die Hausnummern ab. »Hundertdreizehn. Hundertelf. Es ist das fünfte Haus auf der linken Seite. Genau ... da.«
Es war ein altes Häuschen, ein bisschen heruntergekommen. Das Schild, das an einem Pfosten neben dem Weg hing, schaukelte im Wind: »Gill's Nest.«
Er stieg aus dem Wagen und starrte darauf. Auch Adrienne stieg aus und trat neben ihn. Ein frischer Geruch nach Meer lag in der Luft, und sie konnten das leise Dröhnen der Brandung hören. »Der Name ist geändert worden«, bemerkte Adrienne. »Damit wäre also eine Frage beantwortet. Jemand namens Gill hat das Haus gekauft. «
Duran schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«
»Was?«
Er legte eine Hand an die Stirn, schloss die Augen und vergegenwärtigte sich die Dinge, die alle fehlten: die Rundumveranda und die breiten Holzstufen hinauf zur Haustür, die Dachfenster. Er versuchte zu verstehen, wie das Haus in seinem Kopf so hätte umgebaut werden können, dass es aussah wie das vor seinen Augen: ein schmaler Holzbau mit zwei Stufen zur Haustür, keine Veranda, keine Dachfenster. Auch keine Hortensien und keine weißen Steine, um Schlüssel darunter zu verstecken.
»Das ist es nicht«, wiederholte er.
Auf Adriennes Vorschlag hin fuhren sie fast eine Stunde lang kreuz und quer durch den alten Teil von Bethany. Vielleicht hatte er ja die falsche Adresse im Kopf. Vielleicht war es abgerissen worden. Vielleicht. Aber so sehr er sich auch bemühte, das Haus in seiner Erinnerung in die Landschaft zu stellen, die er jetzt sah, es ging einfach nicht. Beach Haven war ein Fantasieprodukt.
»Um Himmels willen«, sagte Adrienne, als sie ausstiegen, um einen Kaffee zu trinken, und sie sich das völlig demolierte Heck des Dodge ansah. »Dafür muss ich aufkommen.« Sie lachte auf. »Für fünfzehn Dollar pro Tag hab ich natürlich auf die Versicherung verzichtet. «
»Ich zahl's Ihnen zurück.«
Sie schüttelte den Kopf. »Schon gut. Meine Kreditkartenversicherung wird den Schaden abdecken. Mir graut bloß vor dem ganzen Schreibkram.«
Sie gingen in das Dream Café und bemerkten, dass ein halbes Dutzend Gäste sie angaffte. »Mein Gott, was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte die Kellnerin, als sie das verklebte Blut hinter Adriennes Ohr sah.
»Ich hab mir den Kopf gestoßen«, antwortete sie und stand auf, um auf die Damentoilette zu verschwinden.
Während sie weg war, saß Duran da und grübelte über seinem Milchkaffee. Er wusste jetzt, dass irgendwas mit ihm absolut nicht stimmte, dass er nicht der war, der er zu sein schien, dass seine Erinnerungen nicht seine eigenen waren. Zumindest nicht die Langzeiterinnerungen.
Aber letzte Nacht war real — das wusste er mit Sicherheit. Und zwar, weil ihm alles wehtat. Die Rippen und vor allem die Zunge, auf die er sich gebissen hatte und die ihm beim Sprechen Schmerzen bereitete. Und nicht nur das: Seine Fantasie wäre gar nicht fähig gewesen, sich dieses Geräusch, das ihm nicht aus dem Kopf ging, auszudenken: das Knacken des Genicks, als Duran seinem Gegner unters Kinn trat.
Das Geräusch war eidetisch, wie die Schmerzen, die er fühlte, und ebenso wie die Schmerzen ging es einfach nicht weg. Also war es real.
Aber Sidwell? War er wirklich auf Sidwell gewesen — oder bloß bei dem Klassentreffen? Denn daran hatte er ganz sicher teilgenommen — er hatte noch die höflichen Begrüßungen im Ohr, sah noch, wie Adam Bowman auf sein Namensschild schielte. Er hatte sich an die Schule erinnert, aber hatte die Schule sich an ihn erinnert? Nicht wirklich..
»Ich hab sämtliche Papierhandtücher aufgebraucht«, sagte Adrienne, als sie sich wieder setzte, mit nassem, aber unverkrustetem Haar.
»Sie sollten zum Arzt gehen«, mahnte Duran. »Das war ein ziemlich übler Schlag.«
Sie schüttelte den Kopf. »Mir geht's wieder gut. Ich brauch bloß ein Kopftuch.«
Bei Hickman Immobilien — das war wieder mal eine Idee von Adrienne — erkundigten sie sich nach einem Haus namens Beach Haven, das einer Familie Duran gehört hatte. Die Maklerin sagte, sie sei in Bethany aufgewachsen und würde jeden im Ort
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