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Gefaelschtes Gedaechtnis

Titel: Gefaelschtes Gedaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John F. Case
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ein Semester lang hatten seine Freunde ihn Bridey genannt. Aber Jeff, der Name, auf den er noch eine Stunde zuvor gehört hatte, klang für ihn so fremd wie Horatio oder Etienne.
    »So, wir können weitermachen«, sagte Shaw. »Sie sagten, ihr Vater hat bei den Olympischen Winterspielen in Japan eine Silbermedaille gewonnen. Ist er noch öfter angetreten?«
    »Nein, nur dieses eine Mal. Aber da war er schon vierunddreißig. Danach hat er überwiegend als Skilehrer gearbeitet.«
    »In Maine?«
    »Ja. Dort haben wir gewohnt. In Betkiel. Jedenfalls war er oft drei, vier Monate weg— und manchmal kam er mitten in der Woche nach Hause, wenn nicht so viel zu tun war.«
    »Waren sie glücklich?«
    »Wer?«
    »Ihre Eltern.«
    McBride wusste nicht, was er sagen sollte. Im Augenblick fragte er sich, warum er nicht glücklich war — warum ihn geradezu Beklommenheit befiel. Schließlich zuckte er die Achseln. »Wir hatten nicht viel Geld«, sagte er. »Meine Mutter sammelte Rabattmarken und ging auf Schnäppchenjagd. Als Lehrerin an einer Privatschule hat sie nicht viel verdient, und mein Vater verdiente ... unregelmäßig. Ich bin nicht sicher, ob meine Mutter ihm wirklich vertraut hat, wenn er weg war. Er war ein richtiger Draufgänger. Selbst als er für die Winterspiele trainierte, stand meine Mutter nicht so hinter ihm, wie man es von einer Sportlerehefrau erwarten würde.«
    »Ach nein?«
    »Er gab seinen Job auf, um Zeit fürs Training zu haben, und meine Mutter war dagegen. Sie war schwanger mit mir. Und auch als er sich dann qualifiziert hatte, hat sie ihn nicht nach Sapporo begleitet. Wäre zu teuer gewesen.«
    »Und nachdem er gewonnen hatte?«
    »Na ja ... er hat nicht gewonnen, und er ist ja nicht im Hundert-Meter-Lauf angetreten. Er wurde Zweiter im Zehn-Kilometer-Biathlon — das hat ihm also nicht viel Ruhm eingebracht. Ich glaube, meine Mutter fand, er wäre nie richtig erwachsen geworden. lch weiß noch, wie er sich einmal den Knöchel verstaucht hatte. Was übel war, weil er keine Unfallversicherung hatte und nicht arbeiten gehen konnte. Das Geld wurde also ziemlich knapp. Ich weiß noch, wie meine Mutter oben an der Treppe stand und die Rechnungen in die Luft warf, dann kam sie runter und hat nachgesehen, welche mit der Vorderseite nach oben lagen, weil sie die dann bezahlen wollte.« Duran hielt inne. »Kann ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«
    »Natürlich«, sagte Shaw und holte ihm rasch einen Becher am Wasserspender.
    McBride war eigentlich nicht durstig. Er wollte bloß Zeit schinden — weil er die Panik in sich aufsteigen spürte, das Beben in seiner Stimme hörte, während seine Konzentration zerstob — und das, obwohl er das Serum bekommen hatte.
    »Danke«, sagte er und trank einen kleinen Schluck.
    »Reden Sie weiter«, drängte der Psychiater.
    »Also — wo war ich?«
    »Das Geld war knapp.«
    »Genau«, sagte McBride, »das Geld war knapp, aber meine Mutter war trotzdem verrückt nach ihm — sie liebten sich, glaube ich, bis zu dem Tag, an dem sie starben.«
    Shaw bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick. »Ihre Eltern leben nicht mehr?«
    McBride schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Sattelschlepper ist auf sie draufgestürzt.«
    Der Psychiater war fassungslos. »Auf sie draufgestürzt?«
    »Der Laster ist auf der Cat-Mousam Road ins Schleudern geraten, durch die Leitplanke gebrochen und auf die tiefer liegende Interstate gestürzt. Sie fuhren gerade in ihrem Volvo daher. Reiner Zufall.«
    »Tut mir Leid.«
    McBride zuckte die Achseln. »Es ist lange her.«
    »Wer hat sich danach um Sie gekümmert? Tanten und Onkel?« 
    »Hatte keine. Aber meine Mutter hatte eine Lebensversicherung. Ich war schon auf dem College, als es passierte.«
    »Und davor? Hatten Sie eine glückliche Kindheit?«
    »Ich weiß nicht. Ich denke, ja. Bethel war ein nettes Städtchen. Ich hatte meine Freunde und Bekannten. Und ich habe gejobbt.« 
    »Wo?«
    »Im Supermarkt Regale auffüllen, auf der Bowlingbahn Pins aufstellen. Als ich älter war, hab ich auf einem Campingplatz gearbeitet. In Maine gibt's davon jede Menge.«
    Später am Nachmittag ließ Shaw Kaffee kommen und gegen Abend Pizza. Mehrmals fragte er, ob McBride müde sei und lieber aufhören wolle, doch die seltsame Mattigkeit, die ihn so lange erfasst hatte — die Trägheit, wegen der er tagelang vor dem Fernseher hängen konnte —, war verschwunden. Bis auf die Furcht, die ihn in Wellen überfiel, fühlte er sich wach und brannte darauf, sich an

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