Gefaelschtes Gedaechtnis
Society. Clubs: Yale, Century, Athenaeum. Wohnsitz: Longboat Key, Florida.
Adrienne lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf der aufgeschlagenen Seite. Der Eintrag im »Who's Who« verlangte ein gewisses Maß an Interpretation, dachte sie. Harvard und. Yale ließen auf ziemlich viel Geld schließen. Dann ein Job in einer Anwaltskanzlei, unterbrochen vom Krieg. OSS. Das war irgendwelcher Spionagekram. Dann zurück in die Anwaltskanzlei. Dann wieder Spion und dann ein Job im Außenministerium — in der Schweiz, wo er, wie sie sah, schon einmal gewesen war. Danach der Job in der Stiftung. Vierzig Jahre lang. Vornehme Clubs und Ehrungen und als krönender Abschluss des Ganzen ein Rentnerhaushalt in Florida.
Vorzeitig beendet durch ihre verrückte Schwester.
Da musste noch mehr zu finden sein. Sie stand auf, ging zur Information und fragte nach dem Zeitschriftenlesesaal. Wie sich heraus stellte, befand er sich gleich am Ende des Korridors. Mit Hilfe einer Bibliothekarin suchte sie die New York Times , die Miami Daily News und den Sarasota Star-Tribune auf Mikrofiche heraus. Jeder der Filme deckte den Zeitraum im Oktober ab, als Crane ermordet worden war.
An einem Lesegerät ging sie die einzelnen Nachrufe durch, bis sie ein ungefähres Bild des Mannes hatte — wenngleich sie noch immer nicht recht verstand, welche Beziehung ihre Schwester zu dem Mann gehabt hatte.
Besonders interessant waren die Einzelheiten über seine Zeit beim Nachrichtendienst OSS. Die Organisation, so las sie, war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter der Ägide des britischen Geheimdienstes gegründet worden. Im Gegensatz zu ihren europäischen Pendants bezog sie ihre Mitarbeiter aus der Oberschicht, von den besten Colleges und den renommiertesten Firmen auf der Wall Street. Laut der Times war das OSS »wichtigster Vorläufer der CIA und zugleich ein transatlantischer Männerbund par excellence«.
Im Star-Tribune fand sie eine Seite mit Fotos, auf denen Crane in verschiedenen Altersstufen zu sehen war. Als junger Mann hatte er fast so gut ausgesehen wie ein Filmstar, mit kräftigen Augenbrauen, energischem Kinn und dichtem dunklen Haar. Er war zu sehen, wie er Franklin D. Roosevelt die Hand schüttelte, wie er mit Allen Dulles, dem Leiter des OSS, an einem Berghang in Gstaad posierte, mit de Gaulle die Champagnergläser klingen ließ und Audrey Hepburn durch den Haupteingang des Esplanade Hotels in Zagreb eskortierte. Etwa vierzig Jahre in der Schweiz. Anwalt, Spion, Leiter einer Stiftung. Wie schafft man da die Übergänge von einen zum anderen, fragte Adrienne sich. Und dann Florida. Bevor er an den Rollstuhl gefesselt war, schienen im Leben des alten Mannes sein Engagement für wohltätige Organisationen sowie Golfspielen eine zentrale Rolle gespielt zu haben.
Das war zwar alles sehr interessant, dachte Adrienne, aber es lieferte ihr keinen Hinweis darauf, warum ihre Schwester mit dem Zug nach Florida gefahren war und Crane erschossen hatte. Ihr kam der Gedanke, dass Nikki vielleicht geglaubt hatte, er wäre einer der Männer gewesen, die sie missbraucht hatten, aber das schien ihr doch etwas weit hergeholt. Schließlich hatte Crane, wenn auf den Eintrag im » Who's Who« Verlass war, während Nikkis Kindheit in der Schweiz gelebt.
Als Adrienne ins Hotel zurückkehrte, sah sie, dass das rote Lämpchen am Telefon neben dem Bett blinkte. Sie hörte die Nachricht ab: >Rufen Sie mich sofort an, egal wann — Ray Shaw<, und wählte Shaws Privatnummer.
»Wir haben den Durchbruch geschafft«, sagte Shaw zu ihr. »Wunderbar! Also los ...« Sie räusperte sich. »Sagen Sie schon, wer ist er?«
»Tja, er ist ein sehr gestörter Mann.«
»Doc...«
»Sein Name ist Lew McBride — Lewis mit >e<. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht: Er hat seine Frau und seinen Sohn mit einem Baseballschläger totgeschlagen.«
»Was!?«
»Sie haben richtig verstanden, aber ob das nur wieder eine Wahnvorstellung von ihm ist oder etwas anderes, können wir nicht sagen.«
Adrienne ließ den Kopf gegen die Wand hinter dem Bett sinken. »Wo ist es passiert?«, fragte sie.
»San Francisco.« Shaw erzählte ihr von McBrides Vergangenheit, von seiner Zeit in Bethel bis zum Studium am Bowdoin College und in Stanford sowie vom Tod seiner Eltern. »Intelligenter junger Mann — keine Frage. Magna cum laude. Doktor in Psychologie, begehrte Stipendien — die Welt stand ihm offen. Bis ...«
»Was?«
»Bis er plötzlich durchgedreht ist.
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