Gefaelschtes Gedaechtnis
passiert war. Somit ließ sich nicht mehr feststellen, an weicher Stelle sich das Opfer befunden hatte, als der Schuss fiel, was wiederum die genaue Rekonstruktion der Flugbahn des Geschosses unmöglich machte. Es ließen sich, so die Polizei, daher »nur vage Vermutungen« darüber anstellen, von wo aus der Schuss abgefeuert worden war.
Adrienne suchte anschließend nach Artikeln über den weiteren Verlauf der Ermittlungen, hoffte inständig, dass der Fall gelöst worden war. Aber natürlich war dem nicht so. Zwei Wochen nach dem Mord hatte die Polizei weder ein Motiv noch Tatverdächtige, noch brauchbare Zeugen und keine Tatwaffe. Der Fall war ein einziges Rätsel.
Auch für Adrienne. Es schien nahe liegend, dass ihre Schwester mit der Sache zu tun hatte, vielleicht sogar die Täterin war. Aber wieso?
Zurückgelehnt auf ihrem Plastikstuhl, blickte sie hoch zu den Neonlampen und streckte sich. Sie war keine Polizistin. Sie hatte keine Ahnung, wie man die Ermittlungen in einem Mordfall durch führte. Aber sie wusste, dass dabei auch das Opfer durchleuchtet wurde. ln diesem speziellen Fall war sie gegenüber der Polizei sogar deutlich im Vorteil: Sie hatte eine Ahnung, wer den Mord verübt hatte.
Aber wer war das Opfer? Wer war der Ermordete wirklich? Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass ihre Schwester tausend Meilen gereist war, um ihn zu töten — und dass er offenbar ein todkranker, alter Mann mit einer Vorliebe für Sonnenuntergänge war. Wie war er in der Zeitung bezeichnet worden? Als »Prominenter«.
Okay, dachte sie und wandte sich erneut dem Computer zu. Wie prominent? Warum prominent?
30
S haw und Duran saßen einander in der Personalcafeteria des Columbia Presbyterian Hospital gegenüber, ohne auf das Geklapper von Tabletts und Besteck, das Hin und Her der Menschen um sie herum zu achten. Ausgeschnittene Papptruthähne schmückten die Wände. Es war Thanksgiving.
Shaw wirkte ratlos, als er Duran über seinen Teller Nudelsuppe hinweg ansah. Schließlich verschränkte der Arzt die Arme vor der Brust und gestand: »lch weiß nicht, wie ich weiter vorgehen soll.« Er hielt inne. »Ihre Neigung zur Dissoziation nimmt eher zu als ab.«
»Wirklich?« Duran war seit der Operation seltsam munter — als hätte er die Welt zuvor durch eine beige getönte Brille gesehen und unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln gestanden.
Jetzt war das Gefühl verschwunden. Und wenn auch die freudige Erregung über sein Wohlbefinden allmählich nachließ, so verhielt es sich mit seiner neu gewonnenen Klarsichtigkeit anders. Alles kam ihm größer und heller vor, die Farben intensiver, die Klänge lauter und präziser.
Shaw presste die Finger zusammen, wie beim Gebet. Dann beugte er sich vor und sagte: »Ich würde es gern mit Sodium Pentathol probieren.«
Duran blickte ihn überrascht an. »Wahrheitsserum?«
Shaw zuckte die Achseln. »Eine kleine Dosis. Mir fällt sonst nichts mehr ein. Natürlich könnten wir einfach abwarten. Aber im Moment komme ich nicht weiter. Sie blockieren.«
»Inwiefern?<
»Ich finde keinen Zugang. Sie sind wie eine Blackbox. Jedes Mal, wenn ich Ihre Vergangenheit erkunden will, lande ich vor einer Mauer. Und ich weiß um alles in der Welt nicht, warum.«
»Und Sie glauben, Sodium Pentathol —«
»Wird helfen? Ja, das glaube ich.«
Duran dachte darüber nach. »Wieso sind Sie so sicher, dass das, was Sie bei mir sehen, Widerstand ist und. kein organischer Schaden?«
»Weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben«, erwiderte Shaw. »Es deutet nichts auf einen Hirnschaden hin — rein gar nichts. Wir haben es hier mit einer pathologischen Aversion zu tun.«
»Gegen ...?«
»Ihre Identität.«
Duran aß einen Löffel von seiner Suppe und dachte nach. Dann beugte er sich vor und sagte: »Sie wollen also damit sagen, dass ich das psychische Äquivalent einer Autoimmunkrankheit habe.«
Shaw blickte ihn verblüfft an. Lachte. »Genau. Aber das ist nicht das Einzige, was mir Kopfschmerzen bereitet.« Er hielt inne. »Sie werden depressiv.« Bevor Duran die Diagnose von sich weisen konnte, fuhr der Psychiater rasch fort: »Also, Depressionen sind ganz und gar nichts Ungewöhnliches nach einer Operation, aber in Ihrem Fall ist es doch schwerwiegender, als ich erwartet habe.«
Duran schüttelte den Kopf. »Das sehe ich nicht so. Im Gegenteil, ich fühle mich so lebendig.«
»Ich weiß. Ich sehe es in Ihrem Gesicht. Aber dann
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