Gefaelschtes Gedaechtnis
Bestattungsboot, überhäuft mit Blumen. Sie hatten einmal darüber gesprochen, halb im Scherz, und Nikki hatte gesagt, was sie sich wünschte: eine Seebestattung.
Adrienne seufzte. Irgendein Gottesdienst, irgendwas Schlichtes, aber wen sollte sie anrufen? Es gab keine Angehörigen mehr. Nur sie. Sie und Jack.
Ach du lieber Gott, dachte sie. Jack!
Ein Schlüssel zu Nikkis Wohnung hing an einem Haken unter dem Wandschrank gleich neben dem Waschbecken, wo sie immer ihre Schlüssel aufbewahrte, damit sie sie nicht suchen musste. Der arme Hund!, dachte Adrienne. Was ist mit ihm? Was soll bloß aus ihm werden?
Um 6:35 verließ sie ihre Wohnung und ging in Richtung 16th Street hinunter, wo sie am ehesten ein Taxi finden würde. Die Sonne stieg langsam hoher, Frühaufsteher kamen aus Heller's Bakery, Aktenkoffer in der einen Hand, Becher mit Kaffee in der anderen. Ein halbes Dutzend Leute wartete an der Bushaltestelle, während ein zerlumpter Latino im Eingang von Ernesto's Taqueria schnarchte.
Es dauerte eine Weile, bis ein Taxi hielt, aber die Fahrt war kurz, der Taxifahrer fuhr die Porter Street hinunter, dann auf der Wisconsin Avenue bis zur M Street. Vor Nikkis Haus stieg sie aus. Sie hatte fast mit einer ganzen Flotte Streifenwagen gerechnet, doch es deutete nichts Ungewöhnliches auf den Tod ihrer Schwester hin. Es kamen bloß Leute aus dem Haus, um zur Arbeit zu gehen, ohne von der Tragödie vom Vorabend zu wissen.
Sie kannte den Portier, der Frühschicht hatte, nicht, aber das spielte keine Rolle. Er las den Sportteil der Post und nickte ihr bloß zu, als sie vorbeiging. Die Fahrstuhltüren öffneten sich mit einem fröhlichen Pling. Und dann war sie im dritten Stock, ging leise den Flur entlang auf die Wohnung ihrer Schwester zu.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Tür mit gelbem Polizeiband abgesperrt war. Aber nein. Die Tür war frei — und sie stand mit ausdruckslosem Blick davor. Nur wenige Stunden zuvor hatte man ihre Schwester auf einer Trage hinausgebracht, ihr Leichnam war mit einem Tuch bedeckt. Sie erinnerte sich, dass Wasser auf, den Boden tropfte, eine kleine Spur vom Badezimmer zur Wohnungstür, aber die war jetzt weg. In Luft aufgelöst. Wie Nikki.
Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, fand ihn und öffnete die Tür. Der Hund stand auf der Couch und stieß ein abgehacktes Bellen aus, das einfach nicht aufhören wollte, halb warnend, halb klagend. »Jackie«, sagte sie, kniete sich hin und kraulte ihn hinterm Ohr, während er sich an sie schmiegte. »Wo ist denn deine Leine?«, fragte sie. »Wo ist sie hin?«
Jack legte den Kopf schief und blickte aufgeregt, sein kleiner Stummelschwanz zitterte vor Anspannung.
Sie überlegte, wo Nikki die Leine wohl aufbewahrt hatte. Wenige Schritte von der Tür entfernt war ein Schrank, und sie öffnete ihn. Schaute hinein. Zwei Mäntel auf Bügeln. Ein Arm voll Sachen aus der Reinigung, noch in Zellophanhüllen. Ein paar Gürtel. Die Inlineskates ihrer Schwester. Sachen. So viele ... persönliche Habseligkeiten. Zum ersten Mal wurde Adrienne klar, dass sie sich um das alles kümmern musste. Die Möbel, die Kleidungsstücke, die Inlineskates ...
Vielleicht war die Leine in der Küche.
Sie ging durchs Wohnzimmer in die Küche und sah sich um. Keine Leine. Kein schmutziges Geschirr. Nichts. Der Raum war sehr viel ordentlicher als normalerweise, so als hätte Nikki aufgeräumt, bevor sie sich umbrachte. Sogar die Kühlschranktür, eine Art Krimskramskunstgalerie, war leer. Oder doch fast. Ein Briefumschlag wurde von einem Magneten in Form eines kleinen Gin-Fläschchens gehalten. Und darauf stand in großen Druckbuchstaben Adriennes Name.
Sie nahm den Magneten ab, ging mit dem Umschlag zu der Theke mitten im Raum und setzte sich, voller Furcht vor den letzten Worten ihrer Schwester. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, öffnete sie den Brief, und mit einem Seufzer sah sie, dass ihre Furcht unbegründet gewesen war. Der Umschlag enthielt das Testament ihrer Schwester, ein vorgefertigtes Dokument, das sie aus dem Internet heruntergeladen hatte. Oben quer über die Seite stand eine vierfarbige Banner-Werbung mit den Worten:
20% Rabatt in 1000 Restaurants im ganzen Land ...
Darunter stand:
Ich, Nicole Sullivan, wohnhaft in Washington, D. C., erkläre hiermit, dass Folgendes mein letzter Wille ist. Erstens: Ich widerrufe sämtliche zuvor gemachten Testamente und testamentarischen Nachträge. Zweitens:
Sie wollte es jetzt
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