Gefaelschtes Gedaechtnis
nicht lesen, obwohl sie auf einen Blick sah, dass ihre Schwester sie als Testamentsvollstreckerin eingesetzt hatte. Was nicht verwunderlich war. Wen hatte Nikki denn sonst noch?
Ja, wen eigentlich?
Irgendwo muss ein Adressbuch sein, dachte Adrienne. Ein Filofax oder ein Palm-Pilot, irgendwas, wodurch sie Verbindung mit Nikkis Freunden und Bekannten aufnehmen konnte (falls es welche gab). Vielleicht hatte sie die Adressen in ihrem Laptop, dachte Adrienne.
Eine kalte Nase drückte sich an ihren Fußknöchel, erinnerte sie an die fehlende Leine. Adrienne stand auf und ging wieder durchs Wohnzimmer zum Schlafzimmer ihrer Schwester - das, wie die Küche, sauber und ordentlich war: das Bett gemacht, die Kleidungsstücke weggeräumt. Sie ging zum Schrank, öffnete die Tür, um nachzusehen, ob die Leine dort hing, und ihr Blick wurde sogleich von einem limonengrünen Plastikkoffer angezogen, den sie nie zuvor gesehen hatte.
Der rechteckige Koffer war zu groß für einen Laptop und zu klein für eine Gitarre. Neugierig hob sie ihn an und war verblüfft, wie schwer er war. Fotoausrüstung? Sie nahm den Koffer aus dem Schrank, trug ihn zum Bett und stellte ihn darauf. Links und rechts vom Tragegriff war je ein Zahlenschloss, aber sie stellten nicht das geringste Hindernis dar. Nikki hatte sich immer damit gebrüstet, für alles dieselbe Zahlenkombination zu benutzen, eine, die sie nie vergessen würde: 1102, ihr Geburtsdatum. Als Passwort für den Computer, 11 0270, also genau dieselbe, nur mit dem Geburtsjahr dazu.
Adrienne drehte die Messingrädchen, bis die Zahlen auf beiden Seiten des Griffs übereinstimmten, ließ dann die Schnappschlösser hochschnellen und öffnete den Koffer.
Was sie sah, war so unerwartet und so merkwürdig, dass es ihr den Atem verschlug. Teile einer Schusswaffe — einer Art Gewehr — lagen in Schaumstoffkammern, die aussahen, als wären sie eigens dafür angefertigt worden. Ein langer, blauer Lauf, ein mattschwarzer Kunststoffschaft, ein Zielfernrohr.
Und ... im Schaumstoff unter dem Zielfernrohr steckte ein säuberlich gearbeitetes, perforiertes Metallrohr mit einem. Gewinde. Obwohl sie so etwas noch nie gesehen hatte (außer vielleicht im Kino), wusste sie doch sofort, was es war oder sein musste: ein Schalldämpfer. Fast reflexartig knallte sie den Koffer zu, als wolle sie den Inhalt verbergen, und drehte an den Rädchen des Zahlenschlosses. Dann trug sie den Koffer zurück zum Schrank und stellte ihn wieder dorthin, wo sie ihn gefunden hatte.
Zum zweiten Mal war sie schockiert und hatte Schuldgefühle. Nach dem Schock darüber, dass Nikki sich umgebracht hatte, und den Schuldgefühlen, dass sie sie nicht gerettet hatte, nun der Schock, im Schrank ihrer Schwester ein Gewehr zu finden - und nicht bloß irgendein Gewehr, sondern so ein Gewehr - und wieder Schuldgefühle wegen ihrer brennenden Neugier.
Mit einem Seufzer schloss sie die Schranktür. Hör auf damit, sagte sie sich. Niemand hätte Nikki retten können (außer vielleicht ihr Psychologe). Nikki war dem Untergang geweiht gewesen. Schon immer. Und die Sachen ihrer Schwester durchzugehen, das war nun mal ihre Aufgabe. Sie war ihre nächste Angehörige. Die Testamentsvollstreckerin. Und die Einzige aus ihrer Familie, die noch am Leben war. Wenn nicht sie, wer dann?
Aber es war so seltsam, dachte sie, während sie sich weiter nach der Leine umsah. So ein Gewehr ... so ein Gewehr kaufte man sich nicht zum Selbstschutz. Und bei allem, was Nikki auch sonst noch gewesen sein mochte, sie war bestimmt keine Jägerin, also ... musste die Waffe jemand anders gehören. Aber wem?
Wieder im Wohnzimmer, suchte sie weiter nach der Leine, obwohl sie im Hinterkopf bereits beschlossen hatte, stattdessen einfach ein Stück Kordel zu nehmen. Dann fiel ihr zum ersten Mal Nikkis Schreibtisch auf. Sie ging hin und fand zu ihrer großen Verblüffung in der obersten Schublade das, was sie suchte. Die Leine. Und auf dem Schreibtisch Nikkis Laptop mit, so nahm sie an, den Adressen in einer der Dateien. (Bot Microsoft nicht eine spezielle »Adressverwaltung« an?) Sie würde den Laptop mitnehmen, wenn sie ging.
Sie schloss die Schreibtischschublade und wandte sich Jack zu, der plötzlich ein langes und alarmierendes Bellen ausstieß - und zur Tür stürzte. Adrienne sah, dass sich der Türknauf drehte, und ein furchtsames Kribbeln durchlief sie, gleich gefolgt von dem Drang, sich zu rechtfertigen und ihre Anwesenheit zu erklären. Zu dieser frühen
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