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Gefaelschtes Gedaechtnis

Titel: Gefaelschtes Gedaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John F. Case
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vorgestellt, mit ihren Freunden und Angehörigen, die sich zu ihrem Gedenken in Trauer versammelten. Aber sie sah eigentlich keine Möglichkeit, dass das geschehen würde. Sie hatte in Nikkis Computer nachgesehen, und es gab so gut wie niemanden. Bloß Adrienne, Ramon, den Hausmeister und ihren Therapeuten. Amtrak und Avis. Den Thai-Imbiss.
    Die Wahrheit war, dass Nikki keine Freunde hatte. Im Grunde nicht. Nicht einen einzigen.
    »Was ist mit ... Einäscherung?«, stotterte Adrienne. Sie konnte hören, wie es dem Bestattungsunternehmer am anderen Ende der Leitung den Atem verschlug.
    Nach einer Sekunde erwiderte er: »Nun ja, das wäre auch eine Möglichkeit.«
    »Schon«, entgegnete Adrienne mit so scharfer Stimme, dass Jack die Ohren aufstellte. »Dann mochte ich das.«
    Albion seufzte. »Wir äschern nur zweimal die Woche ein«, sagte er. »Dienstags und freitags. Also werden wir nicht vor Samstag —« »Samstag reicht.«
    Doch selbst bei der Entscheidung für diese »Alternative« war ihr nicht ganz wohl. Es sollte eine Zeremonie geben, dachte sie. Irgendeine.
    Sie und der Bestattungsunternehmer klärten die restlichen Einzelheiten, darunter die Nummer und das Ablaufdatum von Adriennes Visa-Card sowie die Auswahl eines »Behältnisses«. Das »preisgünstigste« war eine blaue Pappschachtel - »wirklich sehr geschmackvoll«. Adrienne fand den Gedanken an eine Schachtel unerträglich und entschied sich für eine Urne, »das klassische Modell«. Und ja, sie würde die Urne in Empfang nehmen, sobald die »Prozedur« erledigt war.
    »Holen Sie sie persönlich ab?«, fragte Albion. »Oder sollen wir sie Ihnen zuschicken? Zum Beispiel mit FedEx -«
    »Ich hole sie selbst ab«, erwiderte Adrienne und dachte: FedEx? Die wollen mir meine Schwester mit einem Paketdienst zuschicken? Als sie auflegte, brach sie in Tränen aus. Jack hob die Schnauze und gab ein fragendes Wuff von sich.
    Adrienne wischte die Tränen ab, setzte sich an den Küchentisch und fing wieder an, eine Liste zu machen, um Ordnung ins Chaos zu bringen, wenn auch nur auf Papier. Als Marlena starb, hatte Adrienne Deck geholfen, die Habseligkeiten ihrer Pflegemutter durchzusehen. Sie war dabei auf Marlenas Schatzkistchen von Erinnerungsstücken gestoßen: einen dicken Ordner für jedes Kind. In Nikkis Ordner: Valentinspräsente aus Zierdeckchen, Stücke von Spitze, verblichener roter Bastelkarton. Wilde, ja wunderbare Zeichnungen mit Filzstift. Kunstvolle und komplizierte Scherenschnitte von Schneeflocken. Gedichte. In Adriennes Ordner: ein Stoß Zeugnisse mit glatten Einsern, ein paar schmucke, kleine Schneemänner, ein paar von ihren Kindheitslisten, sorgfältig in Druckschrift auf losen Blättern.
    1. Zähne putzen
    2. Bett machen
    3. Frühstücken
    4. Spielen
    Ja, sie war ein Kind gewesen, das es für nötig hielt, sich daran zu erinnern, das »Spielen« nicht zu vergessen. Anders als die spontane und chaotische Nikki, deren Motto höchstens lautete >Spiel nach deinen eigenen Regeln<. Sie, Adrienne, war im Gegensatz zu der bezaubernden und lausbübischen Nikki das »brave« Mädchen gewesen. Nikki erledigte ihre Aufgaben erst, nachdem sie zum tausendsten Mal ermahnt worden war, sie kam nie pünktlich zum Abendessen oder zur vereinbarten Zeit von einer Verabredung nach Hause, schaffte es immer, ihre Lehrer zu beschwatzen, dass sie den Abgabetermin für Referate verlängerten. Nikki handelte sich stets Ärger ein, und doch ... Alle mochten sie. Sie ließ den Raum erstrahlen, auch wenn man ihretwegen manchmal die Augen verdrehte. Denn man wollte, konnte nicht glauben, dass jemand, der so wunderschön und lebhaft war, so dreist sein konnte — und so komisch. Was war bloß passiert?, fragte sich Adrienne. Wie konnte jemand so ... Wunderbares ... zu einer Einsiedlerin werden?
    Das ließ ihr keine Ruhe. Es ließ sie frösteln.
    Auf ihrer letzten Liste hatte gestanden: Abendessen mit Nikki. Aber ein Barrett Albion, eine Bestattungsurne oder ein Präzisionsgewehr hatten nicht darauf gestanden.
    Adrienne schüttelte kurz den Kopf, als wollte sie ihn wieder klar bekommen, und schrieb nacheinander die Dinge auf, die sie zu erledigen hatte:
    1. Fax an Neumann.
    2. Urne — Albion — Samstag.
    3. Amalgamated-Dokus - Memo an Slough.
    4. Visa-Card: Limit?
    Sie überlegte kurz. Was noch? Da war noch etwas. Und dann fiel es ihr ein.
    5. Testament.
    Sie hatte es sich nicht richtig angesehen. Nur in Nikkis Wohnung einen kurzen Blick darauf geworfen. Lange genug, um zu

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