Gefaelschtes Gedaechtnis
fester. Aber so schnell, wie der Bär gekommen war, war er auch wieder verschwunden, seine Schritte hallten den Flur entlang. Sie hörten, dass die Tür zur Treppe sich mit einem Zischen öffnete - dann Stille, und sie konnte sich vorstellen, wie er stocksteif dastand und lauschte. Dann bewegte er sich wieder, stolperte wieder an ihrer Tür vorbei, sodass seine Beine vorübergehend das Licht verdunkelten.
Der hydraulische Mechanismus war so eingestellt, dass die schwere Feuertür sich langsam und sachte schloss statt mit einem Knall. Und als sie nach einer scheinbar halben Ewigkeit schließlich mit einem lauten metallischen Klick zufiel, machte Adriennes Herz einen Satz, und ein Geräusch drang aus ihrem Mund. Wie sie so in der Dunkelheit stand, hatte sie das Gefühl, laut aufgeschrien zu haben. Und einen langen Moment war sie sicher, dass der Bär sie gehört hatte und schon auf dem Weg zurück zu ihnen war, um sie beide zu töten.
Aber nein. Der Fahrstuhl hielt, und die Türen öffneten sich. Und Augenblicke später hörten sie die Kabel surren, während die Kabine Richtung Erdgeschoss sank, Sie machte einen Schritt.
»Noch nicht«, flüsterte Duran.
Sie warteten mucksmäuschenstill, sehr lange, wie es schien, vielleicht aber auch nicht. So in der Dunkelheit zu stehen machte aus Sekunden Minuten, aus Minuten Stunden. Adrienne tat die Seite weh wo der große Mann sie getreten hatte. Sie versuchte, nicht daran zu denken — an den Schmerz und auch nicht an den Augenblick, als der Mann ihr die Waffe an den Kopf gehalten hatte und ihr fast das Herz stehen geblieben war. >Es wird nicht wehtun.< Nach einer Weile fragte sie sich, ob die beiden vielleicht doch von der Polizei waren.
Sie verwarf den Gedanken gleich wieder. Das waren. keine Detectives, dachte sie. Kein Polizist würde so etwas tun, was der große Mann getan hatte. Das waren Killer, richtige Killer. Es wird nicht wehtun ...
Und Bonilla ... Sie war verzweifelt, denn das Bild von Bonilla ging ihr nicht aus dem Kopf. Wie ein Film lief es immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab: der leise Laut, den er von sich gegeben hatte, als er dalag, der rosa Schaum in seinen Mundwinkeln. Und alles nur ihretwegen, weil sie darauf bestanden hatte, hierher zu kommen.
Und sie hatte nicht nach seinem Puls gefühlt, und sie hatte nicht die Polizei angerufen — es war keine Zeit dafür gewesen. Vielleicht ist er gar nicht tot, dachte sie. Vielleicht ... Natürlich ist er tot. Er hat fünf Schüsse abbekommen, von vorne und von hinten. Und jetzt war sie auf sich allein gestellt, hockte im Dunkeln mit diesem Psychopathen zusammen, der ihre Schwester getötet - und ihr das Leben gerettet hatte.
Mehr als einmal kamen Müllbeutel von den oberen Stockwerken durch den Abfallschacht gerauscht. Doch sie erschrak nicht, sondern musste daran denken, dass es direkt jenseits dieser Tür eine parallele Welt gab, in der alltägliche Menschen alltägliche Dinge taten. Während sie—
»Gehen wir.« Er flüsterte noch immer.
Gemeinsam traten sie auf den menschenleeren Korridor und blickten sich um. Es war niemand zu sehen. Sie folgte Duran bis zur Treppe, die sie hinauf- statt hinuntergingen. Sie folgte ihm blindlings, ohne nachzudenken, und schließlich erreichten sie den neunten Stock. Vor ihnen war eine Doppeltür mit der Aufschrift »Fitnessstudio«. Drinnen saß ein einzelner Main in einem nassen grauen T-Shirt vor einem Fernsehgerät auf einem Fahrrad und strampelte wütend vor sich hin. Er schaute kurz zu Adrienne und Duran herüber und wirkte verstört. Dann glitt sein Blick wieder ab, zurück zum Fernseher. Er war der Einzige außer ihnen in dem Raum, und er trug Kopfhörer.
»Normalerweise ist hier viel los«, sagte Duran, und die Enttäuschung war ihm anzuhören. »Ich hatte gehofft ... kommen Sie.«
Er nahm ein Handtuch von dem Stapel neben der Tür, feuchtete es an und reichte es Adrienne. »Sie haben Blut an der Stirn.«
Sie wischte es heftig ab, betrachtete den rosa Fleck auf dem Handtuch und warf es dann in den Sammelbehälter. Sekunden später waren sie wieder auf dem Gang.
»Wohin jetzt?«, wollte Adrienne wissen.
»Wir müssen raus aus dem Gebäude«, sagte Duran. »Er ist noch hier. Ganz sicher.«
Einen Moment lang war sie versucht, sich von ihm zu trennen. Aber nein: Er war alles, was sie hatte, ihre einzige Chance. »Er wird die Lobby beobachten«, sagte sie.
»Dann nehmen wir die Treppe«, erklärte Duran. »Es gibt einen Lieferanteneingang im
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