Gefahrliches Vermachtnis
aber der Blick auf die Wellen verursachte ihr trotzdem Übelkeit.
Sie band sich das Haar zurück und fuhr auf dem schnellsten Weg zum Cottage zurück, auch wenn das hieß, in Sichtweite des Wassers zu bleiben. Ihr Vater hatte nur teilweise recht gehabt, was ihren Mut betraf. Sie hatte immer noch Angst vor vielen Dingen, aber sie hatte inzwischen gelernt, es hinter einer mutigen Fassade zu verbergen. Wie dieser Morgen gezeigt hatte, konnte Dawn es mit ihm aufnehmen. Doch gegen den inneren Aufruhr, den das in ihr hervorrief, sahen die sturmgepeitschten Wellen beinahe harmlos aus.
Vielleicht hatte sie ihre Feigheit von Aurore geerbt. Sie verstand die Ängste und Entscheidungen ihrer Großmutter, obwohl außer ihr niemand im Cottage dazu in der Lage schien. Dawn fragte sich, ob sie ihre Ängste ihr Handeln bestimmen lassen würde, wie ihre Großmutter es getan hatte.
Um sich selbst zu testen, blickte sie zum Wasser. Da saß ein Mann am Ufer, der, während sie auf das Wasser schaute, aufstandund sich zu ihr umdrehte. Sie hätte Ben überall erkannt. Offenbar benötigte auch er eine kurze Atempause vor den Spannungen im Cottage.
Er winkte ihr zu. Sie wartete; es wäre feige gewesen, das nicht zu tun. „Ich habe gehört, der Sturm kommt näher“, sagte er, als er sie eingeholt hatte.
Sie hielt ihren Rock fest, um zu verhindern, dass er hochflog. „Vielleicht werden wir alle in die Zauberwelt von Oz geweht. Ich käme wohl besser mit Hexen und Zwergen zurecht als mit meiner Familie.“
„Deine Familie wird täglich größer.“
„Ich wette, du genießt das ganze Theater.“
„Nein.“ Er klang ehrlich.
„Tut mir leid“, erwiderte sie zerknirscht. „Ich glaube dir, dass es dir keinen Spaß macht. Du warst immer viel zu aufrichtig, als dass du es genießen würdest, wenn andere leiden. Und Nicky leidet wirklich.“
„Du nicht?“
„Du glaubst mir immer noch nicht, dass ich Nicky akzeptieren kann, oder?“
„Das meine ich nicht. Deine Großmutter ist tot. Und du musst dich den schmerzlichen Erinnerungen aus deiner Kindheit stellen. Man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, wie hart das für dich ist, Dawn.“
„Welcher Geschichte muss ich ins Gesicht blicken?“
„Der Distanz deiner Mutter und den Anforderungen deines Vaters.“
„Du hältst mich immer noch nicht für erwachsen, oder?“
Er hob eine zerbrochene Muschel vom Boden auf und untersuchte sie. „Ich habe dir nie viel über meine Familie erzählt. Du hattest nie das Vergnügen, meine Eltern kennenzulernen.“
„So schlecht können ein Pastor und seine Frau doch nicht sein.“
„Meine Mutter hatte nichts zu sagen, es sei denn, es stand irgendwo in der Bibel. Mein Vater schon. Er ließ mich jedenTag meiner Kindheit wissen, dass ich einfach nicht gut genug für ihn oder Gott war.“
Ben hatte nur selten Gefühle gezeigt. Deshalb wusste Dawn nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
„Manchmal sagte er es mir direkt“, fuhr er fort. „Und manchmal machte er es auf subtilere Weise. Wenn wir Ball spielten, warf er ihn so, dass ich ihn garantiert nicht fangen konnte, und dann schüttelte er nur den Kopf. Oder wenn ich gute Noten aus der Schule nach Hause brachte, konzentrierte er sich nur auf die eine Frage, die ich falsch oder nicht zu seiner vollständigen Zufriedenheit beantwortet hatte.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Weil ich weiß, dass ich gut genug bin. Aber wenn ich zu viel über meinen Vater nachdenke, dann beginne ich wieder, an mir selbst zu zweifeln. Ich versuche immer alles richtig zu machen und ihm zu zeigen, dass ich erfolgreich bin. Dabei ist er schon seit Jahren tot.“
„Du hattest ein Foto deiner Eltern im Portemonnaie.“
„Wenn ich diese Stimme in meinem Kopf höre, die mir sagt, dass ich mich noch mehr anstrengen muss, dann muss ich mich daran erinnern, wessen Stimme das in Wirklichkeit ist.“
„Ich glaube, das erklärt, wessen Stimme aus dir gesprochen hat, als du mir sagtest, ich sei nicht gut genug.“
„Ich denke auch. Aber es entschuldigt meine Aussage trotzdem nicht, oder?“
„Nein.“ Sie gingen schweigend nebeneinander her. Das Cottage war schon in Sicht, als sie vor dem Friedhof von Grand Isle stehen blieben.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe“, sagte sie.
„Es ist gar nicht so kompliziert. Du bist eine starke Frau und kriegst es gerade von allen Seiten. Und ich verstehe, wie es dir geht, und fühle mit dir.“
„Das ist der Knackpunkt, oder? Du bietest
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