Gefahrliches Vermachtnis
wollte den Sturm im Haus von Fremden abwarten, aber der Wind wurde immer schlimmer, sodass er fürchtete, das Haus würde nicht mehr lange standhalten. Er brachte die fremden Bewohner zur Kirche.“ Dawn erzählte Phillip, was sie wusste: Die Kirche war bereits zerstört gewesen, aber das Pfarrhaus stand noch. Nur wenige Meter vom Ziel entfernt lief Luciens Boot auf Grund, und er sprang ins Wasser, um es wieder freizubekommen. So geriet Lucien selbst in eine Falle. Wind und Wellen nahmen zu, und in seiner Panik zerschnitter die Leine, die ihn mit dem Boot verband. Das Boot trieb in die Bucht. Er schaffte es irgendwie, sicher ins Pfarrhaus zu gelangen, aber die Menschen im Boot waren zusammen mit dem Boot verschwunden.
„Aber die Menschen im Boot waren keine Fremden“, sagte Phillip, als sie fertig war. „Es waren drei Passagiere: Marcelite Cantrelle, ihr Sohn Raphael und ihre Tochter Angelle. Angelle war Luciens Tochter.“
Dawn starrte ihn an. „Nein.“
„Und er zerschnitt die Leine, um sie in den Tod zu schicken. Er musste sie loswerden. Sein Schwiegervater hatte seine Affäre entdeckt und ihn unter Druck gesetzt.“
Dawn hörte die letzten Worte kaum. „Er hat sie umgebracht?“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen.“
Dawn wollte Phillips Version abstreiten, aber das konnte sie nicht. Sie hatte nicht genau verstanden, weshalb sich ihr Urgroßvater so schuldig gefühlt hatte. Immer wieder hatte er sein Verhalten verteidigt, obwohl ihm Pater Grimaud die Absolution erteilt hatte. Und sie hatte Widersprüchlichkeiten entdeckt, sich aber gefragt, ob es an ihren Französischkenntnissen lag.
„Pater Grimaud war der Priester von Chénière Caminada. Deshalb schrieb ihm Lucien diese Briefe“, erklärte Phillip.
„Was hat diese Geschichte mit Ihnen zu tun?“
„Raphael war mein Großvater.“
„Aber Sie sagten doch, er sei gestorben.“
„Das dachten alle, auch Lucien. Nach dem Hurrikan begrub er Marcelite und Angelle und ein Kind, das Raphael ähnelte. Aber Tage später fand man den Jungen. Er hatte sich an das Wrack geklammert. Als er sein Bewusstsein wiedererlangte, stellte er fest, dass er jemand anderes geworden war. Man hatte ihn als Étienne Lafont identifiziert, einen Jungen, dessen gesamte Familie verschwunden war. Eine Familie aus Lafourche nahm ihn auf. Aber Raphael wusste, wer er war, und er wusste,was Lucien getan hatte. Er schwor sich, dass er ihn finden und Lucien für alles büßen würde.“
Dawn erschauderte.
„Als er erwachsen war, ging Raphael nach New Orleans und bekam einen Job bei der Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft. Er erarbeitete sich rasch eine vertrauliche Position. Er war intelligent, motiviert …“ Phillip stockte. „Er war außerdem multi-ethnischer Abstammung, aber das wusste niemand. Oder zumindest wusste man es nicht sicher.“
„Wie kann das sein?“
„Raphaels Vater wurde in die Sklaverei hineingeboren; er war der Sohn einer Sklavin und ihres Besitzers. Aber die Leute aus Lafourche hielten Raphael nach dem Hurrikan ja für Étienne und auf Chénière Caminada hatten alle dunkle Haare und einen dunklen Teint. Raphael hatte einen Verdacht, was seine wirkliche Herkunft betraf, aber ihn interessierte nur die Rache an Lucien. Um sein Ziel zu erreichen, hätte er alles erfunden.“
„Erzählen Sie weiter!“
„Er fand einen todsicheren Weg, Lucien finanziell zu ruinieren und die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft in die Knie zu zwingen. Aber mit einer Sache hatte er nicht gerechnet. Ein Teil seines Plans bestand darin, Aurore in sich verliebt zu machen. Stattdessen verliebte er sich auch in sie. Sie wurde schwanger, und sie wollten zusammen weglaufen. Einen Moment lang glaubte Raphael, er habe jetzt alles erreicht. Luciens Ruin. Hochzeit mit Aurore. Aber dann lief alles anders. Sie fand heraus, was er getan hatte, aber nicht, warum. Lucien starb, und Aurore verschwand, um das Baby zu bekommen.“
„Verschwand?“
„Zu diesem Zeitpunkt wusste Aurore schon, wer Raphael wirklich war. Sie wusste, dass sein Vater Sohn einer Sklavin gewesen war und ihr Kind ebenfalls gemischtes Blut haben würde. Also versteckte sie sich, um das Baby zu bekommen … Raphael fand sie und nahm seine Tochter mit, um sie bei sich aufwachsen zu lassen. Und diese Tochter war Nicky.“
„ Grandmère hat ihn das Baby mitnehmen lassen?“
„Sie dachte, sie hätte keine andere Wahl.“
„Aber das ist unglaublich! Sie war eine leidenschaftliche Mutter. Sie hätte für
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