Gefahrliches Vermachtnis
ihre Kinder ihr Leben gelassen.“
„Sie hat Nicky Raphael überlassen und sich dann darangemacht, die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft wieder aufzubauen – nur dass es keine Dampfschiffe mehr gab, als die Banken mit ihr fertig waren. Raphael hatte ganze Arbeit geleistet. Also wurde aus dem Unternehmen schlicht Gulf Coast Shipping. Und als sie keinen anderen Weg mehr sah, das Unternehmen finanziell auf sichere Beine zu stellen, heiratete sie Henry Gerritsen, der ihr dabei helfen konnte.“
Dawn schwieg. Sie versuchte, die Geschichte zu verarbeiten. Einerseits hätte sie Phillip am liebsten vorgeworfen, er sei verrückt – andererseits aber wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Es passte alles zusammen. Seine Anwesenheit. Nickys Anwesenheit. Und die Einzelheiten der Familiengeschichte, die ihr bekannt waren.
„Hat Grandmère Nicky jemals wiedergesehen? Wusste sie, wie sie aufwuchs?“, fragte sie schließlich.
„Ich habe Ihnen längst noch nicht alles erzählt. Deshalb wollte Aurore, dass ich alles aufschreibe. Aurore hat jede Seite unterschrieben.“ Er lächelte, aber sein Lächeln wirkte nicht fröhlich. „Sie wusste, dass manche hier es ihr nicht glauben würden.“
„Soll das heißen, Sie haben das Manuskript dabei?“
„Nein. Spencer hat Kopien für jeden, aber er wird sie erst am Ende unserer kleinen Party verteilen.“
„Weiß Spencer …“
„Spencer kann alles bezeugen, was ich Ihnen erzählt habe.
Er kennt die ganze Geschichte schon seit Langem. Genau wie Pelichere.“ Die Sonne ging auf, während er sprach.
„Ich werde es meinen Eltern sagen müssen, Phillip. Wie werden Sie …“ Sie unterbrach sich, hielt einen kurzen Moment inne und lächelte ihn fast schüchtern an. „Wie wirst du es Nicky beibringen?“
Er erwiderte ihr Lächeln, bevor er weitersprach. „Vielleicht hätte ich es ihr schon vor ein paar Monaten erzählen sollen. Aurore überließ mir die Entscheidung des Zeitpunkts.“
„Warum hast du es ihr nicht gesagt, bevor Grandmère starb? Sie hätten vielleicht eine Chance gehabt, sich wiederzusehen.“
„Das ist der Grund, weshalb ich es nicht getan habe. Ich hatte Angst, dass dabei nichts Gutes herauskommen würde, und ich konnte es nicht ertragen, sie noch mehr leiden zu sehen.“ Er stand auf. „Ich habe dir noch nicht alles gesagt. Verurteile meine Entscheidung nicht, solange du nicht alles weißt.“
Sie stand ebenfalls auf und griff, als er weggehen wollte, nach seinem Arm. „Danke.“
„Dafür, dass ich dir Familiengeheimnisse erzähle?“
Sie suchte nach einem Weg, ihm ihre eigenen durcheinanderwirbelnden Gefühle zu erklären. „Ich habe das ganze letzte Jahr versucht, nicht mehr zu dieser Familie gehören zu wollen.“
Er entfernte sich von ihr. „Tja, und nun gibt es noch mehr Familie, zu der du nicht gehören willst – noch dazu Leute, auf die du bestimmt nicht besonders scharf bist.“
Sie ließ es ihm durchgehen. „Hast du jemals auf einer Sandbank im Mississippi gestanden, wenn der Nebel vom Meer aufs Land zieht?“
Er sah sie fragend an.
„Das solltest du mal versuchen“, empfahl sie. „Als kleines Mädchen habe ich das oft getan und ich erinnere mich noch immer daran. Zuerst ist der Nebel sehr reizvoll, weich und kühl und wunderbar geheimnisvoll. Dann beginnst du zu begreifen, dass da auf dem Fluss Menschen in deiner Nähe sind und Boote. Du hörst Wortfetzen, Pfiffe, Schiffsglocken und manchmal sogar Gelächter. Aber nichts davon ist klar, und du kannst nichts sehen, ohne in den Fluss zu fallen und zu ertrinken.“
„Und?“
„Tja, so ungefähr fühlt es sich an, wenn man als eine Gerritsenaufwächst“, sagte sie. „Und obwohl mir nicht besonders gefällt, was ich über meine Großmutter erfahren habe, bin ich dir trotzdem dankbar, dass du hier bist, um den Nebel zu lichten.“
Er musterte sie skeptisch, so als ob er erwartete, einen Widerspruch in ihren Augen zu entdecken. Dann hob er die Achseln. „Wenn wir hier fertig sind, wird es keinen Nebel mehr geben, Dawn. Ich hoffe wirklich, dass du für die ganze Wahrheit bereit bist. Wenn das hier zu Ende ist, wirst du dir den Nebel vermutlich von ganzem Herzen wieder zurückwünschen.“
6. KAPITEL
„L ügen!“ Ferris zerschnitt die Luft mit der Hand. „Was sind das für Spielchen, Dawn?“ Dawn hatte gewartet, bis ihre Eltern wach waren, und lud sie dann zu einem Spaziergang ein. Auf der Auffahrt war niemand in Sicht.
„Keine Spielchen“, versicherte sie.
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