Gefahrliches Vermachtnis
diskutieren.
Am frühen Nachmittag hörte Nicky, wie die Zimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Sie blieb reglos am Fenster stehen. Starke Arme schlangen sich um sie und sielehnte sich gegen ihren starken Ehemann. „Wo warst du?“
„Pelichere hat mir von einer Bar an der Straße erzählt, wo man willkommen ist.“
Sie fragte ihn nicht, weshalb er diese Empfehlung benötigt hatte, denn sie bezweifelte, dass sich auf dieser Insel jemals etwas ändern würde.
Er sagte nichts, sondern verstärkte nur den Druck seiner Arme. So standen sie eine Weile und schauten gemeinsam aus dem Fenster.
„Es tut mir leid, dass ich dich gebeten habe zu gehen“, sagte Nicky.
„Ich musste auch nachdenken.“
„Bist du nicht neugierig, was in der Schmuckschatulle war?“
„Das habe ich nie behauptet.“
„Du bist ein guter Mann, Jake Reynolds.“ Sie neigte ihren Kopf, um ihm ein Medaillon zu zeigen, das sie um den Hals trug. „Hier.“
„Ist es das?“
Das goldene, mit Diamantrosen verzierte Medaillon war angelaufen und sah sehr alt aus. Es war sicher die Handarbeit eines vermutlich längst verstorbenen Juweliers.
„Da ist ein Bild drin.“
Der Verschluss ließ sich nur schwerlich öffnen; sie spürte, wie Jake sich damit abmühte. Dann drückte sie gegen die Kanten, bis die beiden goldenen Herzhälften aufsprangen.
„Wer ist das?“
„Sag du es mir.“
„Dann bedeutet es dir überhaupt nichts?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Sie starrte auf das Foto. Es war ihr sehr vertraut, obwohl sie es seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Das gehörte mir, als ich klein war.“
„Wie bitte?“
„Es war meins, Jake. Eine Freundin meiner Mutter hat mir das Medaillon geschenkt, als ich in New Orleans lebte. Das ist ihr Foto.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Wenn es dir gehörte, woher hatte Aurore Gerritsen es dann, als sie starb?“
„Das ist eine andere Geschichte.“
Er bat sie nicht, sie ihm zu erzählen. Stattdessen schwieg er und drückte sie an sich.
Nicky spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, obwohl sie nicht geweint hatte, seit sie die Schatulle geöffnet hatte. Sie schloss das Medaillon. „Ich brauche Antworten. Könntest du Dawn suchen und sie mir herschicken?“
„Glaubst du, sie wird dir etwas sagen?“
„Es ist nur so ein Gefühl. Ich wüsste auch nicht, was ich sonst tun könnte. Du?“
Er umarmte sie so fest, dass ihr für einen Augenblick die Luft wegblieb. Wie immer, wenn er sich am verletzlichsten fühlte, baute er auf seine Körperkraft.
Als er weg war, fehlte ihr seine kräftige Umarmung, aber sie wappnete sich für das, was kommen würde. Sie musste nicht lange darauf warten. Es klopfte und Dawn öffnete die Tür. „Nicky?“
„Kommen Sie rein!“
„Jake sagte …“
„Ich möchte, dass Sie sich ein Foto ansehen und mir sagen, ob Sie wissen, wer das ist.“
„Natürlich.“ Dawn kam langsam näher. „Geht es Ihnen gut?“
„Nein. Und Ihnen?“
„Auch nicht.“
„Tja, da haben wir immerhin etwas gemeinsam.“ Nicky fuhr mit den Fingern über das Medaillon. Sie zögerte kurz und betrachtete Dawn. „Haben Sie das hier schon mal gesehen?“
„Ich glaube nicht.“
Nicky öffnete das Medaillon. „Und diese Frau?“
Dawn blickte kurz auf das Foto. „Das ist meine Großmutter,als sie jung war.“
Nicky schloss das Medaillon und wandte sich ab.
„Soll ich gehen?“, fragte Dawn leise.
„Sie hat mir nie gesagt, dass sie meine Mutter ist! Als ich ein kleines Mädchen war, saß ich auf dem Schoß Ihrer Großmutter. Sie brachte mir Geschenke und erzählte mir, dass sie meine Mutter kannte, aber sie hat mir nie verraten, wer meine Mutter war.“
„Oh Gott.“ Dawn setzte sich neben Nicky aufs Bett.
„Ich habe sie zwei Mal gesehen, glaube ich. Es ist schon so lange her! Ich weiß, dass ich sie gesehen habe, bevor mein Vater mit mir nach Chicago zog. Da schenkte sie mir dieses Medaillon.“
„Wie alt waren Sie?“
„Elf, glaube ich. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Mein Vater wurde in Chicago getötet. Clarence Valentine, ein Jazzpianist, hat das alles gesehen und fürchtete danach um mein Leben. Er hat mich aus der Stadt geschmuggelt und mich mit nach Paris genommen. Er war wie ein Großvater für mich.“
„Wie kam Ihr Vater ums Leben? Oder wollen Sie lieber nicht darüber sprechen?“
„Es gab Kämpfe, Schwarze gegen Weiße. Er wurde erschossen. Ich habe den Mann gesehen, der
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