Gefahrliches Vermachtnis
nannte sie insgeheim „Bob eins“ und „Bob zwei“, aber offiziell sagte sie „Honey“ und „Sugar“ zu ihnen. Die beiden mochten das.
„Honey, ich freu mich, dich zu sehen.“ Sie küsste Bob eins auf die Wangen und wandte sich dann an Bob zwei. Sie beherrschte den freundschaftlichen Kuss perfekt, diese oberflächliche, aber sehr geschätzte Form der Begrüßung im Les Américains . „Sugar.“ Sie trat einen Schritt zurück, um diejenigen, die sie noch nicht kannte, mit Handschlag zu begrüßen.
Im Laufe des Jahres hatte sie so eine Art siebten Sinn für das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz entwickelt. Sie begleitete die beiden Bobs und deren Freunde zu den Plätzen und umschwirrte sie in ihrem grün-rosa Kleid wie ein kleiner Kolibri. Als sie ging, war schon die erste von vielen Flaschen Champagner fällig.
Clarence’ Klavierspiel wurde nun von den dunklen Tönen eines Kontrabasses und den weichen Klagelauten einer Trompete und einer Klarinette begleitet. Als Reaktion darauf erhöhte sich auch der Geräuschpegel im Klub. Nicky kümmerte sich um eine Gruppe von Neuankömmlingen, der üblichen Mischung aus dunkel- und hellhäutigen Menschen.
Sie lebte seit acht Jahren in Paris und hatte inzwischen eine Menge Erfahrungen gemacht. Dennoch empfand sie den Anblick einer dunklen Männerhand auf der kreideweißen Haut einer Frau immer noch als ungewöhnlich. Es lag an ihren Kindheitserinnerungen, dass es sie irritierte, in einem Land zu leben, dem Rassismus offenbar fremd war. Wenn sie einkaufen ging, erwartete sie beinahe immer noch, dass man sie ans Ende der Schlange verwies. Und sie war erst vor Kurzem schreiend aufgewacht, als draußen auf der Straße Sirenen ertönten.
Nicky begrüßte drei Männer, Jazzmusiker, die oft in einem Nachtklub der Konkurrenz auftraten. Sie schenkte ihren Begleiterinnen ein Lächeln und stellte fest, dass man sie abschätzend musterte. Die Kleider der Frauen schienen direkt aus einem Modemagazin zu stammen. Der Stoff der exklusiven Modelle presste die knabenhaften Brüste der Frauen dicht an ihre dünnen Körper. Nickys Kleid war nicht halb so viel wert wie der Saum einer Paul-Poiret- oder Jean-Patou-Schöpfung, aber ihre langen Beine machten das bei Weitem wieder wett.
Einer der Männer, ein Schlagzeuger namens Tadpole Harris, nahm sie in den Arm. Nickys Blick fiel auf Julia St. Cloud. Die zierliche Frau, die von ihren Freunden „Cloudy“ genannt wurde, hatte blondes Haar und ein langes, schmales Gesicht. Julia St. Cloud war eine Erbin, die hin und wieder vielversprechende schwarze Talente unter ihre Fittiche nahm.
„Nicky Valentine ist der einzige Grund, weshalb wir hierherkommen“, erklärte Tadpole überschwänglich. „Sie kann tanzen. Mann, kann dieses kleine Mädchen tanzen!“
„Und singen“, erinnerte sie ihn. „Ich singe, vergiss das nicht! Außerdem kommst du, weil du Clarence hören willst, das weißt du genau.“
„Clarence ist ihr Großvater“, warf Tadpole grinsend ein. „Er passt auf sie auf wie ein Luchs. Und er beherrscht den New-Orleans-Style wie kein Zweiter. Wir sollten mal für ’ne Jamsession mit Clarence herkommen. Einen Besseren gibt es nicht!“
Nicky glühte vor Stolz, wie immer, wenn Clarence gelobt wurde. Der übliche Jazz in Paris klang fad, wie der Sound aus einer anderen Zeit. So entwurzelt, hatten einige Musiker den Bezug zu ihrem musikalischen Erbe verloren. Nicht so Clarence. Er improvisierte mit Bläsern und Schlagzeugern, die geradewegs vom Schiff aus Amerika kamen, um die neuesten Musikentwicklungen von zu Hause zu verstehen.
Sie befreite sich aus Tadpoles Umarmung und wollte ihn mit seinen Freunden zu einem Tisch in der Nähe des Klaviers führen, als ein weiterer Mann dazukam. Der etwa dreißigjährige,breitschultrige Mann besaß eine weiche dunkle Haut und Augen, die tief in sie hineinzublicken schienen.
„Du kennst Gerard noch nicht“, stellte ihn Tadpole vor. „Gerard Benedict. Cloudys Freund.“
Nicky begrüßte ihn lächelnd. Dann fiel ihr ein, woher sie seinen Namen kannte. „Gerard Benedict, der Dichter?“
Er hob die Brauen. „Sie kennen meine Arbeit?“, fragte er mit südlichem Akzent und in ungläubigem Tonfall.
Nicky drückte den Rücken durch. „Nicht zu fassen, oder, Süßer?“, sagte sie gefährlich sanft. „Da lernt so ’n armer Negerjunge aus Alabama ein oder zwei Worte schreiben und so ’n Negermädchen aus Looziana kann sie doch glatt lesen. Wo soll das nur alles noch
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