Gefahrliches Vermachtnis
Valentine anstatt bei ihrem geliebten Vater. Als Clarence und sie sich gezwungen sahen, aus Chicago zu fliehen, hatte sie alles zurücklassen müssen. Alles. Außer Clarence und ihrer Liebe zur Musik.
Und den Erinnerungen an den Tod ihres Vaters, die hin und wieder in ihren Albträumen auftauchten.
„Worüber denkst du nach, Schätzchen? Du machst so ein merkwürdiges Gesicht“, erkundigte sich Clarence.
Sie lächelte. „Nichts.“
Seine Miene hellte sich auf. Er grinste. Bevor er in der Lage gewesen war, mit der Musik Geld zu verdienen, hatte Clarence in New Orleans Baumwollballen geschleppt. Er war ein großer, starker Kerl, an dem die Zeit nicht ganz spurlos vorübergegangen war. Er besaß zwar keine nennenswerte Bildung, aber ein sehr feines Gehör, sodass er sich das Klavierspielen selbst hatte beibringen können, nachdem er anderen beim Musikmachen zugehört hatte. Meist spielte er ihre Nummern in einer noch aufregenderen Version nach.
In dieser Nacht trug er einen glänzenden schwarzen Anzug mit einer scharlachroten Weste und seinem Markenzeichen, einem Diamantstecker an der Krawatte. Sein weißes Hemd leuchtete im gleißenden Scheinwerferlicht.
„Wollen wir gehen?“, fragte sie, „oder willst du deine alten Finger die ganze Nacht lang malträtieren?“
„Wir gehen, wenn’s so weit ist. Es wird bald richtig heiß hergehen.“
In den Nachtklubs am Montmartre ging es erst weit nach Mitternacht heiß her. Amerikaner und Briten kamen nach Paris, um Termine und Alltag für eine Weile zu vergessen.
Ihre Tage waren vorhersehbar. Genau wie die Nächte. Nach dem Abendessen in einem hübschen kleinen Restaurant suchten die echten Trinker unter ihnen kleine, persönliche Bars wie das Dingo oder das Parnasse auf, wo sie mit dem Barmann auf Du und Du standen. Die anderen trieb es wegen der Musik und zum Tanzen zum Montmartre. Diejenigen, die ins Les Américains kamen, blieben bis weit nach Sonnenaufgang, weil die Stimmung immer heißer und ausgelassener wurde, je später die Stunde war. Trinkgelder und Lob wurden dann ebenfalls großzügiger verteilt. Das war auch der Grund, weshalb Nicky Clarence bitten wollte, lieber am Ende der Nacht aufzutreten statt am Anfang.
„Wo wir gerade über die heiße Atmosphäre sprechen“, sagte Nicky, froh, dass er ihr eine so gute Vorlage geliefert hatte. „Wenn du mir die Gelegenheit geben würdest, könnte ich die Stimmung mit meinem Gesang noch weiter aufheizen, Clarence.“
„Wovon sprichst du? Du singst doch jede Nacht. Du hältst sie bei Laune. Die Leute bleiben hier, um dich zu hören. Wenn du nicht wärst, würde niemand hierherkommen, Süße!“
„Sie kommen bestimmt nicht, um mich zu hören.“ Nicky kaute auf einem Fingernagel.
Clarence ließ seine Finger über die Tasten fliegen und begann mit seiner ersten Nummer. Sie erkannte ein Blues Medley, das Clarence zu aufreizend für sie fand.
Nicky schmollte, weil sie wusste, dass er das hasste. „Sie kommen nicht meinetwegen, weil ich ihnen ja nicht einmal zeigen darf, was ich noch alles könnte.“
„Du gehst jetzt besser und zeigst ihnen, was du kannst, sonst wird Mr Yernaux irgendwann auf die Idee kommen, sich eine Neue zu suchen.“
Sie zog eine Grimasse à la Josephine Baker, aber er schüttelte nur den Kopf. Nicky sorgte für den perfekten Sitz ihres Paillettenkleids, setzte ein strahlendes Lächeln auf und ging zur Tür.
Einige Gäste des Les Américains waren berühmt. Von dem Moment an, als Nicky und Clarence ihre Füße auf französischen Boden gesetzt hatten, hatte Clarence dafür gesorgt, dass sie dort die Ausbildung und das Leben bekommen würde, die ihr Vater sich immer für sie gewünscht hatte. Clarence hatte in kleinen Jazzklubs, mit verschiedenen Jazzbands Klavier gespielt, um sich ihre Schulausbildung und ein Apartment für sie beide leisten zu können. Sie hatte Literatur und Kunst, Sprachen und Benehmen studiert. Ihr Französisch war perfekt; ihr Englisch natürlich auch – schon für den Fall, dass sie es noch einmal brauchen würde. Die Ordensschwestern ihrer Schule hatten ihre Liebe zur Literatur auch noch unterstützt, und so wusste Nicky, dass man mit Männern wie Ernest Hemingwayund F. Scott Fitzgerald, die bereits im Les Américains getanzt und getrunken hatten, noch würde rechnen müssen.
Nun begrüßte sie eine neue Gruppe von Gästen. Zwei der Männer kamen ihr bekannt vor; amerikanische Journalisten aus dem Südwesten, die ein paar Monate in Europa arbeiteten. Sie
Weitere Kostenlose Bücher